Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Erinnerungen an Walter Kühr

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Manche Nachrichten nehmen aberwitzige Umwege und wissen offenbar genau, warum sie es tun:
Walter Kühr, der am 2. Januar 2015 in New York gestorben ist, war kein Freund der korrekten Wege – die ihn vielleicht vor die Mosaiken von Ravenna, doch gewiss nicht in den Ölhafen dieser Stadt geführt hätten. Worauf er stolz wie Oskar war.
Ein fantastischer Akkordeonist, der Flohmärkte nach Sirenen abklapperte, weil er deren Sound so liebte. „Accordeon Guru“, „Evangelist who spread the gospel of the accordeon“ – jeder Versuch, die New Yorker Nachrufe zu toppen, kann nur scheitern. Da es keinen Deutschen gibt und ich keine Musikkritikerin bin, versuche ich’s auf meine Weise, höchst persönlich also.

Walters Faible für die Seiten der Städte, die Prospekte lieber verschweigen, öffnete mir bei diversen Reisen und Ausflügen in den 80ern die Welt, in der ich heute lebe und die so lebendig bleibt wie die Erinnerung an
– das Jabo-Stübchen mitten im Bochumer Schrottplatzgebiet mit dem Hund Heinrich, der dort das Schlagzeug bewachte
– einen nur noch aus Fassaden und Brachen bestehenden Stadtteil Duisburgs, von rotem Kupferstaub bedeckt, den er „Stalingrad“ nannte
– seine Küche in der Bremer Reihe Hamburgs, die komplett mit Stadtplänen tapeziert war
– das Viertel St. Georg, wo man inmitten des Straßenstrichs durch einen düsteren, oft stinkenden Tunnel musste, um in sein riesiges Refugium mit Klavier, Wackeltisch, Zimmerteich, Bett, Bücherregalen und unputzbaren Fenstern zu zwei Seiten zu gelangen. Als junge Feminstin, die ich 1983 war, stellte ich erstaunt fest, dass ich mich dort sicherer als sonstwo bewegen konnte, weil die Frauen vor seiner Tür kein Interesse an Konkurrenz hatten und mich vor Anmache schützten.
– Ohne Walter hätte ich mich dennoch kaum in die benachbarte Kneipe LENZ getraut, in der wir uns lieber von einem jungen Mann in weißer Strickjacke hochkatholische Reime zu Gehör bringen ließen als auf’s Klo zu gehen, was weit dringender gewesen wäre. Doch wer kriegt schon in einer Puffkneipe religiöse Gedichte vorgetragen?
– Hätte er nicht im Brustton felsenfester Überzeugung behauptet, den Weg zu kennen, wären wir nicht mitten in der Nacht in einem Vorort Barcelonas gelandet, dessen Straßen so eng waren, dass die Bewohner die Stühle von der Gasse nehmen mussten, um unser Auto durchfahren zu lassen. Sie wirkten nicht gerade begeistert darüber. „Walter, wenn das eine Sackgasse ist, tu‘ ich dir was.“ Es war eine und er lachte sich schlapp über meine Rückwärtsfahrkünste.
– Im CAMPINO, seinem geliebten 5-Mark-pro-Nacht-Hotel im Barrio Gotico Barcelonas, steckte ich allerdings nach einer Nacht auf. Da sich offensichtlich nicht mal eine Putzfrau hineintraute, war mir die Suche nach einer völlig verdreckten Toilette, bei der ich ausschließlich wilden Kerlen begegnete, zuviel. Wahrscheinlich durfte ich mich deshalb 2013, als er mich zum letzten Male in der Nordstadt besuchte, fragen lassen, ob ich mich in diesem so männlich dominierten (hä?) Stadtteil wohl fühle. Na klar doch, du warst ein guter Lehrer.

Barcelona84

Ebenso in Sachen Musik. Nach dem ersten Konzert der Mellow Tones, das ich ’84 im Hamburger Farbbad hörte, war ich hell begeistert. Doch auf Walters aufgeregte Frage, wie es mir gefallen habe, wagte ich nichts zu sagen. Ich hatte doch gar keine Ahnung von Jazz! Ein paar Biere später erst war mir klar, dass es nicht darum ging, irgendwas Profundes vom Stapel zu lassen, sondern mein Gefühl. Als ich las, dass er um 23.45 Uhr gestorben ist, musste ich erstmal heulend Dexter Gordons „Round Midnight“ hören. Denn den Zugang zu dieser Musik danke ich ihm.

Allein schon, weil’s wie die typische Musiker-Mär klingt, gehört diese Geschichte eigentlich nicht erzählt. Aber was ist schon eigentlich?
„Du kannst die Sonnenbrille ruhig abnehmen.“ sagte er, als ich anno ’88 schwer verheult bei ihm einlief.
„Auf dein Risiko.“
„Au weia, setze sie sofort wieder auf. Wir denken uns was Besseres zu deiner Erheiterung aus.“
Immerhin zählte das Akkordeon noch zu den Instrumenten, die man braven Mädchen mit Zöpfen, weißen Kniestrümpfen und Faltenröcken zuordnete. Weshalb wir Walters Akkordeon – nicht zum ersten Mal – in die Pfanne brachten, wobei eine Palette Dosenbier raussprang. Frevel fordert Kreativität. Wir ersannen das Bukowski-Mobile aus Kleiderbügeln und Bierdosen, das nach Leerung jeder Dose neu in Waage gebracht werden musste. Da wir’s nicht patentieren ließen, sei Nachbauern dringend von der Nutzung von Plastikkleiderbügeln abgeraten.
Er löste das Akkordeon wieder aus, nahm es 1989 mit nach New York und gründete dort später sein Main Squeeze Orchestra, bestehend aus lauter Frauen mit Zöpfen, Faltenröcken – von der Pflicht weißer Kniestrümpfe sah er ab.
Ich befolgte den Rat, den er mir in der Nacht unseres Bukowski-Mobiles gab: „Da du sowieso dauernd schreibst, besorge dir ein autodidaktisches Schreibmaschinen-Buch. Du musst dich so auf deine Finger konzentrieren, dass du die Umwälzmaschine im Kopf mal ruhen lässt. Wenn du deinen Liebeskummer hinterher nicht los bist, kannst du wenigstens mit 10 Fingern tippen.“
Zum Beweis dafür, dass das was bringt, kredenzte er mir „Die Hungerkralle“, eine Geschichte, mit der er mich davon überzeugen wollte, seine Hamburger Wohnung zu hüten, solange er in New York weilte. Ich blieb im Ruhrgebiet, denn sonst müsste ich das ja heute noch tun.
Walter kehrte nur noch als Besucher aus New York zurück, wo er zum As am Akkordeon wurde, sein MainSqueeze-Geschäft gründete und es liebte, uns bei NewYork-Trips so sehenswerte Orte wie ausgebrannte Irrenanstalten zu zeigen.

Jetzt liegt es an mir, einen Beweis anzutreten. Auf meine Bitte, seine Musik für einen Kurzfilm nutzen zu dürfen, schickte er mir die CD „The Loneliest Man in the World“ seiner Band THE LAST OF THE INTERNATIONAL PLAYBOYS. Er gewährte mir freie Auswahl unter den von ihm komponierten Stücken, und erinnerte mich bei einem unserer letzten Telefonate daran.
Das war im November 2014 und ich hatte das Gefühl, dass sein Anruf eine Art Abschied war. Seltsam, meine Wahl war auf „Good Bye“ gefallen. Als ich ihm erzählte, dass ich unsicher sei, ob ich den Film wirklich machen wollte, ermutigte er mich. Ich solle bloß nicht aufgeben. Der Titel meines Drehbuchs (Mit vollem Mund) entspräche schließlich seinem Lieblingszitat von Onkel Dagobert:
„Tu mir auf, Donald, aber nicht zu knapp.“
billerhuderinsel
aus einer Zeit, zu der Funktelefone noch Lachanfälle auslösten…

3 thoughts on “Erinnerungen an Walter Kühr

  1. Einen Gin selbstverständlich! Auch wenn die legendäre Gin-Mixmaschine fehlte. Hat er deswegen nicht geschmeckt?
    hy

  2. Hallo Astrid, danke für diesen Nachruf. Leider hab ich es nie geschafft mit einem Segelboot nach NY zu machen . . . ich hoffe daß alle die ihn kannten eine geeignete Flüssigkeit zu sich genommen haben, in seinem Gedenken. Gruß von Mike auch an Gerd

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