Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Helmut Dreier: Stille

Bottner war ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und sogar ein recht guter Musiker. Er spielte ordentlich Klavier und auf dem Cello war er sogar in der Lage, im Ärzteorchester der Stadt am ersten Pult mitzuspielen.
Bottner selbst war kein Mediziner. Er arbeitete als IT-Spezialist für eine Firma, die medizinische Geräte herstellte und so hatte er Verbindungen zur Ärzteschaft des Krankenhauses. Die Kolleginnen und Kollegen im Orchester, fand Bottner, waren alle sehr engagiert in der Musik. Wahrscheinlich war das ein guter Ausgleich zum Druck, der in einem modernen Krankenhaus und in den Praxen herrschte.
Es war ein gutes Ensemble. Natürlich, es war ein Laienorchester, aber die Aufführungen waren beliebt in der Stadt und die vier Konzerte im Jahr, die man im Konzerthaus gab, waren immer ausverkauft.

In eben diesem Konzerthaus gab es einmal im Monat ein symphonisches Konzert des Opernorchesters der Städtischen Bühne.
Seit sich Bottner und seine Frau vor einigen Jahren getrennt hatten, gewann Musik in seinem Leben eine immer größere Bedeutung. Die beiden Kinder waren aus dem Haus, seine Frau zog in eine andere Stadt und Bottner hatte viel Zeit, die er zum größten Teil in irgendeiner Form der Musik widmete.
Irgendwann erwarb er dann ein Abonnement für die Konzertreihe des Theaterorchesters.
Für Bottner waren diese Konzerte stets ein Abend, auf den er sich besonders freute. Hier spielten Profis und Bottner kannte die Details genau, die den Unterschied machten zwischen den Theatermusikern und seinem Ärzteorchester.
Außerdem glaubte Bottner zu hören, dass die Profis bei diesen symphonischen Konzerten noch besser und noch konzentrierter bei der Arbeit waren als in den Aufführungen, bei denen sie im Orchestergraben die Sänger der Opern, Operetten und Musicals begleiteten. Hier endlich saßen sie selbst auf der Bühne, wurden nicht nur gehört, sondern auch gesehen. Das spornt an, dachte sich Bottner.

Vor zwei Jahren ergab sich für Bottner die Gelegenheit, den für ihn idealen Platz im Saal zu abonnieren. Nicht zu weit vorne, so konnte er alles gut überblicken und dann saß er noch leicht nach rechts von der Mitte aus versetzt. Das brachte ihn in eine gute Position zu den Celli, denen selbstverständlich seine besondere Aufmerksamkeit galt.

In aller Regel ging Bottner allein zu den Konzerten. Bei diesen Gelegenheiten legte er keinen Wert auf Begleitung. Genau genommen hätte sie ihn nur vom Wesentlichen abgelenkt. Gute Musik füllte ihn aus. Musik kann man nur erleben, fand Bottner. Wer versucht, über Musik zu reden, wenn Herz und Kopf voll davon sind, macht sie banal und beliebig. Er hätte also nichts mit seiner Begleitung zu besprechen gehabt.

Und so kam es, dass Bottner über seine Sitznachbarn in den Abonnementkonzerten recht wenig wusste. Er legte keinen Wert darauf, sie näher kennen zu lernen. Er kannte ein paar Namen, man begrüßte sich höflich und erkundigte sich nach dem Befinden, mehr nicht.
Ein paar Sitze links von ihm saß Dr. Becker mit seiner Gattin. Becker war der Pauker und Kassenwart des Ärzteorchesters und obwohl Frau Becker Bottner sympathisch, intelligent und attraktiv erschien, hielt er doch meist Abstand zu den Beckers. Mit einem trommelnden Kassenwart wollte er sich auf keinen Fall über Beethoven oder Bruckner unterhalten.

Jetzt war es Anfang Dezember und das Jahresabschlusskonzert stand an. Bottner bereitete sich wie immer gut auf das Konzert vor. Er hörte sich die Stücke des Programms vorher ein paarmal von CD-Einspielungen an.
Von Werken, die ihn besonders interessierten, besorgte er sich im Musikalienhandel eine Taschenpartitur. Er hörte die CD, las mit und studierte dabei besonders die Cellostimme.
Die Partitur mit ins Konzert zu nehmen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, aber er sah im Konzertsaal immer wieder Leute, die das machten. Bei Musikstudenten fand er das noch in Ordnung, aber alle Anderen, die das taten, fand er suspekt. Sie erschienen ihm aufschneiderisch und lächerlich. Beim Versuch ihre Umgebung dadurch zu beeindrucken, dass sie in der Lage waren, eine Partitur zu lesen, zeigten sie doch gleichzeitig ihre Unfähigkeit, Musik wirklich zu hören. Denn Eines wusste Bottner ganz gewiss, wahre Musik konnte man nicht graphisch darstellen, sie war reiner Klang, abstrakt und nur übers Ohr aufzunehmen.

Am Abend des Jahresabschlusskonzertes verfuhr Bottner ganz nach der Routine, die er sich für solche speziellen Abende zurechtgelegt hatte. Er machte etwas früher Feierabend als sonst und ging nach Hause, um eine Kleinigkeit zu essen und eine Tasse Tee zu trinken. Gewöhnlich trank er zum Abendessen Wein, an Konzertabenden aber verzichtete er darauf. Im Konzert wollte er einen klaren Kopf haben, egal ob er im Publikum saß oder selbst spielte.
Bevor er das Haus verließ, duschte er noch und zog sich um. Nicht, dass er Wert auf besondere Abendgarderobe gelegt hätte, aber er empfand es als eine Geste des Respekts gegenüber der Musik, sich den Staub des Alltäglichen abzuwaschen und in frische Kleidung zu steigen.

Das Programm an diesem Abend war recht ungewöhnlich, da es keine romantische Musik vorsah, die sonst eigentlich immer den Schwerpunkt dieser Konzerte darstellte.
Man begann mit einer Orchestersuite von Johann Sebastian Bach. Ein prächtiges und beschwingtes Werk, das bei Bottner immer für eine leicht euphorische Stimmung sorgte.
Es folgte Mozarts Klarinettenkonzert. Die Solistin war hervorragend und spielte besonders den zweiten Satz mit einer einfachen Innigkeit, die Bottner die Augen feucht werden ließ.
So gespielt war diese Musik für ihn der Ausdruck reiner, bedingungsloser Liebe.

Bottner blieb, als man in die Pause ging, um sich ein Glas Sekt zu holen und Small Talk zu halten, auf seinem Platz sitzen. Ihm war nicht nach Unterhaltung. Das Orchester, Bach und Mozart hatten in ihm eine Stimmung erzeugt, in der er verharren wollte, die er abseits des beflissenen Trubels im Foyer genießen wollte.
Es kam nicht oft vor, aber Bottner kannte diesen Zustand bei sich. Es waren glückselige Momente, wenn ihn die Musik so erfüllte, dass ihm nichts sonst auf der Welt von Belang und Wichtigkeit erschien. Im Gegenteil, er glaubte sogar, dass dieses Eins-Sein mit der Musik die Welt von all ihren Krankheiten und Gebrechen erlösen könnte, wenn es nur jeder einmal erfahren würde.

So saß Bottner in sich gesunken und still, mit halb geschlossenen Augen die kompletten zwanzig Minuten der Pause. Erfüllt vom Nachklang der Musik, die sich nur noch als Ruhe und Stille in ihm ausbreitete.

Leises Murmeln, das Rascheln der Abendgarderobe der Damen und das dezente Knarzen der Herrenschuhe auf dem Parkett holten ihn aus seiner Versenkung.
Die Pause war beendet, man nahm wieder Platz und Bottner war fast ein wenig verärgert darüber. Gerne hätte er den Moment der Versenkung noch etwas länger genossen.

Der letzte Programmpunkt für diesen Abend war eine große Haydn-Symphonie.
Bottner überlegte kurz, ob er nicht besser aufstehen sollte, um nach Hause zu gehen, denn was sollte jetzt noch kommen? Das, was er im besten und günstigsten Fall in einem Konzert erleben konnte, hatte er bereits erlebt. Eine Steigerung schien ihm nicht möglich.
In diesem Moment wurde das Licht im Saal aber bereits wieder gedimmt und die Musikerinnen und Musiker nahmen auf der Bühne Platz.
Würde er jetzt aufstehen und gehen, könnte es gut sein, dass er noch nicht aus dem Saal war, wenn der Dirigent ans Pult trat.
Bottner fand, er würde damit einen peinlichen Auftritt abliefern. Außerdem mochte er Haydn, also blieb er sitzen und war gespannt auf das, was folgen sollte.

Schon nach wenigen Minuten lächelte Bottner stillvergnügt in sich hinein. Es war eine gute Entscheidung, das Konzert bis zum Ende zu hören. Schon bei Bach und Mozart hatte er das Gefühl, das Orchester spielte heute Abend besonders präzise und intensiv. Jetzt aber entzündete sich vor seinen Ohren ein akustisches Feuerwerk. Die Musik wurde souverän und virtuos dargeboten, das ganze Ensemble klang wie ein einziges Instrument, gespielt von einem einzigen Musiker.

Im Schlusssatz kurz vor der Coda hatte der Komponist noch einen besonderen Effekt in die Musik eingearbeitet. An einer Stelle, an der alles auf einen ganz bestimmten Akkord hinauslief. Ein Akkord, der genau hier kommen musste, um die harmonische Spannung der Musik aufzulösen, genau hier, wo alle im Publikum genau zu wissen glaubten, was folgen würde, passierte – nichts.
Eine plötzliche unerwartete Generalpause. Kein Instrument spielte und kein Zuhörer rührte sich.
Atemlose Spannung und absolute Stille.

Natürlich kannten viele der Anwesenden das Stück und wussten um diese komponierte Stille. Aber so, wie dieser Moment an diesem Abend vom Orchester vorbereitet und musiziert wurde, war es dann doch für alle wahrscheinlich genau so, wie der Komponist sich das gewünscht hatte. Eine Überraschung und noch viel mehr als das. Es war eine Überwältigung.
Bottner fühlte sich in seinen Sitz gedrückt als säße er in einem Überschallflugzeug bei maximaler Geschwindigkeit. Er wusste nicht mehr, ob der Dirigent tatsächlich diese Pause extrem lange aushalten ließ oder ob dies nur sein subjektiver Eindruck war.

Der Höhepunkt der Musik war keine Musik, sondern eine Pause in der Musik. Die Stille war die Essenz der Musik. Durch Bottner schwirrten Empfindungen, rasend schnell, doch zugleich deutlich wie in Zeitlupe. Klar und durchsichtig vernahm er die Stille und es war die schönste Musik, die er je erlebt hatte. Es war ein Sog, der Bottner in eine tiefe Ruhe zog, wie er sie nie zuvor gekannt hatte, die ihn einschloss und nicht mehr freigab. Bottner erlebte einen wunschlosen Frieden, von dem er glaubte, es müsse der Zustand sein, von dem die meditierenden Mystiker berichten.

Später am Abend, zu Hause, konnte Bottner sich nicht mehr an den Schluss der Symphonie erinnern. Die Coda nahm er nicht mehr wahr. Genauso wenig den Schlussapplaus. Er bemerkte nicht, wie die Leute den Saal verließen. Seine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ein Saalordner ihn ansprach und ihn höflich darauf aufmerksam machte, dass man jetzt das Haus zu schließen gedenke.
Bottner nickte, lächelte den Mann an, erhob sich und ging nach Hause in der Gewissheit, dass er nun genug Musik gehört hätte und er ab sofort sowohl auf dem Klavier wie auf dem Cello nur noch die Stille suchen werde.

Helmut Dreier, Januar 2016

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