Für die Astronomen ist er ein Gasgigant, mit 143.000 Kilometern Äquatordurchmesser und 67 bekannten Monden der größte Planet unseres Sonnensystems. Früher nannte man ihn gern „die kleine Sonne“. Für die alten Römer war er ihre Version des griechischen Göttervaters Zeus. Für die Astrologen steht der Herrscher des Zeichens Schütze für das Prinzip des Glücks, der Großzügigkeit, des Optimismus‘ und der Sinnsuche.
Und für mich? Ich nenne ihn gern Onkel Jupp und stelle ihn mir so vor: ein freundlicher dicker Kerl, der gern mal einen hebt und dann den Mund zu voll nimmt: „Was kost‘ die Welt? Schreiben Sie’s auf meinen Deckel.“
Wer, wenn nicht Onkel Jupp, würde seine Dose Hans A. heben und diesen Toast auf die Nordstadt ausbringen?:
Heiligegartenstraße 27, sichtbar aus Richtung Ost, also Bornstraße
„Der Spruch ‚Im Norden geht die Sonne auf‘- in den 20er Jahren wahrscheinlich auf einem Schild der Arbeiter-Gaststätte ‚Zum Faß‘ am Steinplatz zu sehen, aber schon 30 Jahre zuvor vom Stadtverordneten Habich bekannt gemacht – bringt dieses Neue zum Ausdruck. Der dunkle Norden beanspruchte die ‚Sonne‘ als Symbol der Hoffnung und des Aufbruchs. Gleichwohl war es oftmals nur eine Beschönigung der vielfach benachteiligten Situation in diesem Stadtteil.“
(zitiert nach dem Flyer zur Ausstellung „Im Norden geht die Sonne auf. Zur Kulturgeschichte der Dortmunder Nordstadt bis 1993“, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund 26.5.-15.7. 1993).
Die Monate November und Dezember, also die Schütze-Zeit, sind die Jahreszeit der größten Dunkelheit und zugleich die Zeit des Lichts: wir zünden Kerzen und Lichtergirladen an, werden entweder besinnlich und lesen oder übernehmen uns kolossal in vorweihnachtlichem Stress und wüster Stromverschwendung. Beides entspricht dem astrologischen Jupiter-Prinzip: der Mensch kann auf Sinnsuche gehen oder in maßlose Übertreibung verfallen.
Als alte Optimistin setze ich darauf, dass ihr mehr Lust auf Lesen als aufs Stress-Konsumieren habt. Denn der Spruch begegnete mir zum ersten Male als Buch:
Elli Dost erzählt die Geschichte ihrer Ehe mit Josef, von seinen Geschwistern Jüppken (!) genannt. Am 25. November 1938, also zur düstersten Schütze-Zeit, geschlossen, wurde die Hochzeit mit einem kleinen Kneipenbummel durch die Nordstadt begangen: „Unsere letzte Kneipe war eine kleine Weinstube auf der Münsterstraße. Schräg gegenüber stand an einer Hauswand Im Norden geht die Sonne auf. Dabei lag der Ruß von den Fabriken und Zechen schwer auf den Straßen, den Häusern und den Fensterbänken.
Würde die Sonne hier jemals aufgehen?
Wir vier waren fröhlich gestimmt. Die Augen von meinem Mann leuchteten, ich sonnte mich.“ (S.23)
Dieses kleine Zitat ist das Optimistischste, was Elli Dosts Buch zu bieten hat. Das Leben einer Arbeiterfrau im Faschismus, im Krieg und den Folgejahrzehnten war kein Zuckerschlecken. Zugleich hat es mich viele Erzählungen meiner Oma, selbst Bergarbeiterfrau, nochmals besser verstehen gelehrt. Elli Dost erzählt offen von den Dingen, die meine Oma und andere Frauen ihrer Generation für sich behalten hätten. Selten habe ich so offene Worte über Sex und Abtreibungen gelesen. Über den in der Nordstadt heute noch so geliebten Kollegen Alkohol, zur Brust genommen gegen die Hoffnungslosigkeit, die er vergrößert. Über Armut, die zum Annehmen verhasster Kriegsbeutegeschenke zwang und über die Angst, die in Elli Dosts Brust mit dem Wunsch nach Widerstand stritt.
Ihre Erzählung erinnert mich an die mythologischen Kämpfe, die Zeus/Jupiter gegen die Titaten, die Giganten, das Ungeheuer Typhon bestritt und die er nur mit Hilfe seiner Brüder Poseidon + Hades, des Halbgottes Herakles und des Götterboten Hermes bestehen konnte. Zeus selbst bringt den Mut auf, seine Helfer versorgen ihn mit Waffen = Tricks und Strategien. Betrachten wir diese Kämpfe (der gegen die Titanen soll 10 Jahre gedauert haben und er besiegte sie mit seinen Blitzen) als Auseinandersetzungen mit unseren oder der Nordstadt Schattenseiten, können wir darin die Krisen wiedererkennen, die jeder Mensch erlebt. Ohne Krisen werde ich mir meiner Selbst nicht bewusst: das ist die SINNSUCHENDE Seite Jupiters. Oft brauche ich (Geistes-)Blitze, Listen und Tricks, um die Dämonen niederzuringen.
(Jupiter/Zeus als Blitzeschleuderer)
Elli Dost hat ihre Kämpfe gekämpft, sich vor keiner Krise gedrückt und kam auf diese Weise dazu, Bücher zu schreiben. Wahrlich nicht als Schriftstellerin geboren, wächst sie über die Annahme hinaus, dass aus einer Nordstadtgöre höchstens eine Döner-hilfs-verkäuferin mit ungezählten Blagen werden kann.
Wenn ich schon einmal beim Jupiter-Prinzip der Nordstadt bin, komme ich auch am BVB nicht vorbei:
„Am 19. Dezember 1909 gründen 21 katholische Messdiener der kath. Dreifaltigkeitsgemeinde im Saal der Gaststätte „Zum Wildschütz“ bei Heinrich Trottsen in der Oesterholzstraße 60 den Fußballverein „Ballspielverein Borussia 09“. Anlass ist das Dekret des Jugendkaplans Hubert Dewald, die sonntägliche Messe auf 14.00 Uhr nachmittags zu verlegen, um den Jugendlichen den in dieser Zeit geübten Sport des „rohen Balltretens“ zu verleiden. Erster Präsident des BVB wird Heinrich Unger. Gespielt wird zunächst auf der „Weißen Wiese“, einer von Pappeln umstandenen Grasfläche am östlichen Ende der Wambeler Straße. 1924 bauen Vereinsmitglieder und Spieler in Eigenhilfe (!) den Platz zum Borussia-Stadion aus. An der gleichen Stelle befindet sich heute das Schwimmbad Stockheide.“ (Hubert Nagusch)
Sprich: bei seiner Gründung, die die Astrologin Monika Heer auf 20.09 Uhr setzt, stand die Sonne im Schützen und Jupiter in der Waage.
Na holla, in diesem Jahr zieht Jupiter wieder durch das Zeichen Waage und so ein direkter Übergang über den „Geburtsjupiter“ wird gern als Glücksgeschenk betrachtet. Punktgenau fand dieser Übergang am 5.11.2016 statt, dem Tag, an dem der BVB 5:2 gegen den HSV gewann.
Besteht also Hoffnung auf einen Sieg in der Championsleague?
Ach, wenn irgendwer dem Jupiter-Prinzip entsprechend gern den Mund zu voll nimmt, sind es Fußballfans…
Doch Zeus oder Jupiter war nicht in erster Linie als Ballspieler bekannt.
War er nicht vielmehr der, der alle flachlegte, die nicht schnell genug auf die Bäume kamen? Gewiss doch und insbesondere in der Nordstadt, die als Rotlicht-Viertel ihren zweifelhaften Ruf begründete.
Eine der vielen Geliebten des Zeus war Danae, für die er sich in einen Goldregen verwandelte, womit sie übrigens zum Sinnbild der Prostituierten wurde.
(Tizian, Danae, 1545)
Wenn man aber Oberbürgermeister, also sowas wie der Göttervater Dortmunds werden möchte, wie 1998 der Herr Drabig von der SPD, sollte man im Sperrbezirk der Nordstadt das Auto nicht zu voll laden. „Huch, das war eine Prostituierte?!“ zu krähen, die unser naiver Kandidat für eine der typschen Supermarkt-Parkplatz-Tramperinnen hielt, half wenig: die Wahl ging in die Hose! Immerhin, Drabigs Danae dürfte ihren Goldregen erhalten haben, als sie sich outete und durch die Talkshows gereicht wurde.
Mittlerweile hat die Stadt den öffentlichen Straßenstrich geschlossen.Für die, die’s im Auto bevorzugen, geht es also nur noch auf die Drabig-Methode.
„Oberbürgermeister Sierau sagt, die Stadt handele aus Notwehr. Sie habe viel getan für den Aufschwung der Nordstadt, der nun gefährdet sei. Statt der erhofften Kreativen, Familien und Studenten sind Kriminelle in das Viertel gekommen. „Wir müssen ein Signal senden Richtung Plovdiv, Richtung Bulgarien und Rumänien, dass die Verhältnisse in Dortmund andere geworden sind.“ ( der Süddeutschen entnommen)
Anders geworden sind die Verhältnisse in erster Linie für die Prostituierten, die nun wieder gefährlicher leben, und für ihre Beratungsstelle Kober, der die Stadt die Geldmittel versagte. Denn wo kein Strich mehr ist, braucht auch keine mehr Hilfe – ist doch logisch????
Man kann Zeus‘ Affairen jedoch auch anders betrachten:
Mit Mnenosyne, der Göttin der Erinnerung, verbrachte er neun Nächte. Sie gebar daraufhin die neun Musen = Versinnbildlichung der Künste.
(Nordstadt/Linienstraße zu Zeiten Andrea Mantegnas, der hier 1497 Apollo, Venus, Merkur und die 9 Musen malte)
Seien wir kreativ und übersetzen die beeindruckende Zeugungskraft des Zeus in unsere Kraft, etwas aus uns selbst zu kreieren. Prompt komme ich in der Nordstadt auf weit mehr als neun Stätten, an denen sich die Frage, was Kunst ist, jeden Tag neu stellt – solange wir den Glauben an uns selbst nicht verlieren oder die Nordstadt zur No-Go-Area erklären lassen.
Als ich noch Nordstadt-Galeristin war, erklärte mir ein todesmutiger Besucher aus Benninghofen, dass er meinen Hinterhof beeindruckend mediterran fände, die Umgebung aber höchst abenteuerlich. Das war 2000, also vor 16 Jahren und ich frage mich, ob dieser Besucher sich heute noch in die Nordstadt traut.
Zum astrologischen Jupiter-Prinzip gehört aber das Interesse am Fremden, an Reisen in ferne Länder. Wie viele Nationen leben noch mal in der Nordstadt? Da sage ich doch nur: Lassen Sie den Flieger stehen, verursachen Sie weder Dreck noch Lärm, wenn sie die U-Bahn 41, 42, 46 oder 47 in die Nordstadt nehmen, um die Musen zu besuchen, die hier permanent geboren werden und von denen Sie lernen können, dass in uns allen die künstlerische Seele steckt. Sagte das nicht schon Beuys? Eben drum seien jetzt neun Musen denen ans Herz gelegt, für die Kunst neben Malerei auch die Wertschätzung des eigenen Tuns und der Arbeit der anderen ist:
– ganz jupiter-like heißt es ALLES FÜR ALLE im Umsonstladen, der jeden letzten Dienstag im Monat im ebenso empfehlenswerten Nordpol zu finden ist.
– Wolle, Strickmuster und sogar Strick-Ins bietet auf Wollzauber auf der Leuthardstraße.
– Tai Chi könnt ihr in der Lortzingstraße 28 machen, deren Tor noch mein Vater geschweißt hat (aber die Farbe, liebe BVB-Fans, hat er nicht zu verantworten!)
– Ihr müsst unbedingt mal ins sweet-16-Kino, wenn ihr ungewöhnliche Filme sehen wollt. Klein, aber fein und echt bequem.
– Jede Menge Farben und Klänge gibt es für Kinder in der Bunten Schule, die ich ja schon mal zur Nordstadtsonne erklärt habe.
– vom Fachmann gebackene Weihnachtsplätzchen? Da kann ich nur meinen Um-die-Ecke-Bäcker empfehlen.
– wer sich fragt, warum der BVB zu einem Gasgiganten wie Jupiter wurde, sollte die Straßenkicker der Nordstadtliga bewundern.
– nicht nur Bücher gibt es im anarchistischen Treff Black Pigeon:
Bin ich jetzt schon bei Neun oder soll ich weitermachen?
Es waren erst 8, also sei noch Zeus‘ Liebe zu Ganymed erwähnt. Der alte Knabe hatte es nämlich nicht nur mit der Damenwelt. Auch seinem schönen Mundschenk Ganymed war er äußerst zugetan, hier als Marmorgruppe von Thorvaldsen: Zeus ist übrigens der Adler. Weshalb ich das älteste Schwulen- und Lesbenzentrum des Ruhrgebiets, das KCR auf der Braunschweiger Straße ebenfalls zu den Orten zähle, an denen im Norden die Sonne aufgeht.
Für mich geht sie jetzt mal unter, ungefähr sooo schön wie damals, als ich auf der Halde Haniel in Bottrop war:
26. Dezember 2016 um 20:26 Uhr
Endlich komme ich doch noch dazu, wenn auch am Ende: 😀
Schönes Weihnachten
7. Dezember 2016 um 10:56 Uhr
Ich habe mich bemüht zu lesen, trotz meines z.Z. kleinen Bildschirms. Unterhaltsam wo die Sonne aufgeht und letztlich ein kleiner Zeitvertreib im ansonsten traurigem Alltag. E.N.