Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Eine Reise zu den Sternen der Nordstadt: Mit MERKUR zu einem Kunstwerk des glücklichen Zufalls

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HERMES PSYCHOPOMPOS wird er genannt, der Götterbote, der die Seelen in die Unterwelt geleitet. Sein römischer Kollege Merkur, Astrologen als Herrscher der Sternzeichen Zwillinge und Jungfrau bekannt, war sofort bereit, mit mir in den Untergrund zu gehen.
Wir besuchen die U-Bahnhaltestelle Münsterstraße.
Dort feiert in diesem Jahr ein Kunstwerk seinen 20. Geburtstag, das Monika Ihl 1997/98 gemeinsam mit vielen Kindern und Jugendlichen aus der Nordstadt schuf. Es ist fast in Vergessenheit geraten: als ich bei den Stadtwerken um Informationen zur ungewöhnlichen Gestaltung dieser Haltestelle bitte, ist man ratlos.

MünsterstraßeVerteilerebene

Ich steige also mit Merkur die Treppen hinab und er erklärt mir, dass er mitgekommen ist, weil er der Schutzgott des Verkehrs, der Reisenden und der Begegnung ist. Ich bin gespannt.
Auf der Verteilerebene des U-Bahnhofs begegnen wir einer Vielzahl von Reliefs aus Ton, die die Wände schmücken. Eine Etage tiefer ist gerade eine Bahn angekommen. Die Menschen eilen durch die Verteilerebene – wir bleiben die einzigen, die sich die Reliefs genauer anschauen. Die weißen auf der großen halbrunden Wand sind eindeutig von Kinderhand geschaffen. Wir haben richtig Spaß beim Betrachten: mein erklärter Liebling ist ein Strichmännchen, das sich im freien Flug nach oben zu befinden scheint. Es steigt aus dem Wasser hinauf zur Sonne und kommt mir vor, als habe es Sehnsucht danach, die Welt von oben zu betrachten.

strichmännekenschiff

Merkur lacht sich kaputt über die Liebe der Kinder zum BVB und zur Diddelmaus. Klar, die war 1997 begehrtes Sammelobjekt, man musste sie den Eltern dringlichst aus dem Portemonnaie leiern. Dann entdeckt er eine hinreißende Darstellung des Hafens und rätselhafte Dinge, bei denen wir uns nicht einig sind, ob sie den Mittagstisch einer Familie oder doch einen Bollerwagen zeigen.

bvb2bollerwagenVogel

An der Wand gegenüber ist in dunklem Ton gearbeitet, die Reliefs wirken nicht mehr kindlich. Ha, ich entdecke, dass ihre Schöpfer-innen identifizierbar sind: auf einer Leiste ganz unten kann ich die einzelnen Reliefs Namen und Altersangaben zuordnen. Alles klar: die dunklen Bilder sind die Werke Jugendlicher. Prompt kriegen wir es mit nackten Frauen, Tanzveranstaltungen, wieder dem BVB und ebenso der Pflanzenwelt zu tun.

die nacktemaydaypflanzen

„Verstehst du den Zusammenhang?“ frage ich Merkur.
„Zufall!“ grinst er und deutet auf zwei Fahrgäste. Die eine will in die U-Bahn hinunter, der andere rennt nach oben und nur knapp weichen sie einem Zusammenprall aus. „Sowas kann in blauen Flecken oder großer Liebe enden.“ setzt er hinzu. „Geplant ist es jedenfalls nicht.“
Mir scheint, Merkur hat bereits mehr kapiert als ich. So kenne ich ihn aus der Astrologie: blitzgescheit, immer Informationen sammelnd, verknüpfend, weitergebend, wobei er ein Tempo an den Tag legt, bei dem unsereine selten mithalten kann.
Erst, als es mir gelingt, Monika Ihl ausfindig zu machen, die als Künstlerin im Depot tätig ist, erfahre ich die Entstehungsgeschichte dieser U-Bahngestaltung.

AUGENBLICK DES ZUFALLS hat sie ihr Projekt genannt. Auftraggeber war die Hafenrunde, ein Arbeitskreis aus 22 sozialen Einrichtungen der Nordstadt. Deren Wunsch war es 1997, ein Projekt mit Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Monika nennt es Zufall, dass ihr Konzept ausgewählt wurde.
Nachdem es ihr zugefallen war, musste sie jede Menge Disziplin an den Tag legen, denn Kunst ist, wie schon Karl Valentin sagte, nicht nur schön, sondern macht viel Arbeit. Sie zeigt mir die Liste der Einrichtungen, in denen sie mit Kindern und Jugendlichen an den insgesamt 218 entstandenen Kacheln arbeitete: Kindergärten, Schulen, Spielplätze, Freizeiteinrichtungen, Kirchen – die Liste ist beeindruckend lang. Sie zeigt mir die Auflagen der Stadtwerke: die Überwachungskameras müssen funktionsfähig bleiben, es dürfen keine Müllfangstationen entstehen, die Reinigung muss reibungslos ablaufen können und vor allem muss „die Wiederherstellung des Raumes in den Originalzustand“ möglich sein. Das Kunstwerk zu vergessen, war dann wohl doch einfacher, denke ich. Zum Glück!

Jedem Kind stand eine Tontafel zur freien Gestaltung des Themas „Was gefällt mir und ist mir wichtig an der Nordstadt?“ zu Verfügung.
Ich wüsste gern, was die Tafeln, die meinen Blick anzogen, den Kindern von damals bedeuteten. Was faszinierte so sehr am Hafen, warum trägt die nackte Frau einen Hut und liegt im Regen, was ist wohl aus der Clique geworden, deren Namen auf einer Kachel verewigt sind? Hat sich die in Ton geritzte Sehnsucht dieser Jugendlichen erfüllt? sehensucht
Was ich nun verstehe, ist die Bedeutung des Hermes Psychopompos: er hat mich zu den Seelen der Kinder und Jugendlichen von 1997 geführt, zu dem, was ihnen wichtig genug war, in dieser U-Bahnstation in Ton gemeißelt zu werden.
„Bei den Griechen bedeutete Zufall Glück.“ behauptet mein Freund Hermes/Merkur. „Glück ist der Zufall im Menschenleben.“
Monika Ihl führt es weiter aus: „Die U-Bahnstation ist ein Treffpunkt unterschiedlicher Menschen. Sie fahren von diesem Ort in verschiedene Richtungen oder kommen aus verschiedenen Richtungen an diesem Ort an. Hier kommt es zu zufälligen Begegnungen dieser Menschen. Gruppen bilden sich und lösen sich wieder auf. Mein Konzept für dieses Wandrelief basiert auf dem zufälligen Zusammentreffen verschiedener Menschen zu einem Zeitpunkt an einem Ort und hält diesen zufälligen Augenblick fest.“
Sie hat das Zufallsprinzip konsequent durch das Projekt gezogen: die Plätze für die einzelnen Kacheln wurden ausgelost, was in den Reihen, die sie bilden, oft witzige Zusammenhänge ergibt. zufall Monika erzählt mir, mit welchem Eifer die Kinder und Jugendlichen dabei waren, wie sehr dieses Projekt dazu beitrug, ein wenig Stolz und Selbstidentifiktion zu entwickeln.

Leider ist die Verteilerebene die, durch die Reisende nur hasten, um aus dem Untergrund ans Licht zu kommen. Fast nie bleibt jemand stehen, um die Reliefs zu betrachten. Doch ich frage mich, ob Goran, Nilüfer, Jennifer oder Stefanie heute vielleicht mit ihren Kindern herkommen, um ihnen ihren Anteil an Kunst im öffentlichen Raum Dortmunds zu zeigen. Sie alle haben dazu beigetragen, aus einem Durchgangsraum ohne jeden Charme eine beseelte Unterwelt werden zu lassen, in der es lohnt, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen.

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