Falls sich jemand fragt, warum meine Reise zu den Sternen der Nordstadt vom letzten Herbst bis heute eine so stille Reise war: der Weg hinaus zu Pluto, dem äußersten Planeten unseres Sonnensystems, brauchte jede Menge Zeit.
Mehr als einmal stand ich auf unserer Seite des Flusses Styx und winkte der Fähre hinterher, mit der Fährmann Charon geliebte und geschätzte Menschen in den Hades, die Unterwelt brachte, aus der es keine Rückkehr gibt.
Hades (röm. Pluto) war der Bruder des Zeus (Jupiter), dem die Unterwelt zugeteilt wurde – also sowohl das Reich der Toten, als auch das des tiefen Unbewussten und des Unterirdischen, was z.B. der Zeche Pluto in Wanne-Eickel ihren Namen gab.
Ach, wie gern schaudert die Astrologin, wenn es um Pluto geht:
Wir kriegen es mit Fragen von Macht und Ohnmacht, von Obsession und Zerstörung, mit Kontrollfreaks und Gewalttätern zu tun. STIRB UND WERDE lautet Plutos Wahlspruch, denn er ist der Regent des Tierkreiszeichens Skorpion, also der Jahreszeit, in der die Dunkelheit Überhand gewinnt. Styx, bei Homer „Wasser des Grauens“, ist der Fluss, der das Reich der Toten von dem der Lebenden trennt, sein Wasser kann sowohl unverwundbar machen als auch vergiften.
Was es auf unserer Seite dieses Flusses gibt, sind die friedlichen Orte des Abschieds, der Erinnerung, der Aufforderung zur Wandlung. Ein solcher Ort ist der Nordfriedhof, passenderweise auf der Grenze der Nordstadt nach Eving gelegen. Hie und da lugt der Hammerkopfturm der alten Zeche Minister Stein durch die Bäume, der vom Förderturm zum Bürohaus wurde und damit den ersten Wandlungsprozess bereits hinter sich hat.
Auffallend auf dem Nordfriedhof sind die vielen Gräber mit polnischen Namen, die auszusprechen deutschen Zungen einiges abfordert. Sie erzählen von der Bergbaugeschichte des Ruhrgebiets, geben den sehr berührenden Denk- und Mahnmalen dieses Friedhofs Namen bei. Zwar wissen wir Kinder der Szymanski- und Jabłczyński -Familien noch von der Herkunft unserer Urgroßeltern, der großen Einwanderungsbewegung ins Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert. Doch ist nur noch wenigen von uns geläufig, dass zu Beginn des 20. Jahrhunders im Bergbau streckenweise zweisprachig ausgeschildert werden musste.
Ob wir zu integriert sind? In was und geht das?
Es waren diese Arbeiter, die im März 1920 die Rote-Ruhr-Armee bildeten, die in die öffentliche Geschichtsschreibung der Dortmunder Stadtportale nicht integriert wurde. Dort wird sie gerade mal als Widerstand gegen den Kappputsch aufgeführt. Bereits 13 Jahre vor Hitlers Machtübernahme zogen Freikorps unter Kapp und Lüttwitz mit Hakenkreuzfahnen durch Berlin und erklärten die Regierung für abgesetzt. Da es im Ruhrgebiet wegen der unteriridischen Arbeits- und Lebensbedingungen und der keineswegs überirdirschen Entlohnung ohnehin rumorte, reagierte man mit Generalstreik. Die Rote Ruhr Armee fand ihre Anfänge bei den Anarchosyndikalisten (FAUD) in Ickern und Mengede, führte zu einem Bündnis aus KPD, USPD, SPD und FAUD und wuchs schnell auf 50-80.000 Bewaffnete im ganzen Ruhrgebiet an. Am 15.3.1920 wurden beim Sturm auf das Stadthaus in Dortmund dreizehn Arbeiter erschossen, von denen neun hier begraben liegen.
Es ging beim Ruhraufstand um mehr als die Zurückschlagung des Putsches: die Zufriedenheit mit der Berliner Regierung war längst an ihre Grenzen gekommen, man kämpfte für eine Räteregierung im Ruhrgebiet. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass SPD-Innenminister Noeske den Aufstand von Freikorps niederschlagen ließ, vor deren Putsch die Rote Ruhr Armee die Weimarer Republik geschützt hatte.
(mehr über den Ruhraufstand findet ihr hier:
– in Dortmund: Internetportal Westfäl. Geschichte
– im Ruhrgebiet: Gelsenzentrum über Rote Ruhr Armee)
Was hat das nun alles mit Pluto zu tun, der erst 1930 entdeckt wurde? In der Astrologie wird das Pluto-Prinzip mit Macht und Ohnmacht verbunden. Die Menschen im Ruhrgebiet zeigten ihre Macht, wehrten erfolgreich einen frühen Versuch faschistischer Machtübernahme ab. Zugleich versuchten sie, die Chance zur Transformation der Republik zu ergreifen – auch dies ein Pluto-Prinzip. Doch Macht endet dort, wo Gewalt beginnt…
So, wie Frau und Kind dieses Denkmals standen die Frauen und Kinder der Kumpels am 2. Februar 1925 vor den Toren der Zeche Minister Stein. 56 von ihnen waren Witwen geworden – ihre Männer hatten die Gasexplosion in Schacht Otto nicht überlebt. 136 Kumpel waren tot (Pluto, der Herrscher der Welt unter Tage stand am Dortmunder Himmel in Opposition zum Gasplaneten Jupiter!). Die Nacktheit der Skulptur verweist auf die Zeitlosigkeit von Trauer ebenso wie auf das von nun an sehr nackte Leben, das den Frauen und Familien nach einem Grubenunglück blieb. Mein Urgroßvater Adam Szymanski blieb 1914 im Berg der Zeche Germania – hier der Bescheid Knappschaft über die Rente von mtl. 78 Mark 61 für meine Urgroßmutter von 1925. Das Unglück geschah bereits 1914, meine Uroma hatte 11 Kinder, von denen 1925 jedoch nur noch eines unter 15 war.
Die Trauernden des Denkmals für das größte Grubenunglück auf Minister Stein stehen heute von Laub und Bäumen gerahmt auf dem Nordfriedhof. Neun Kumpels konnten gerettet werden, weil trotz aller Sprachbarrieren unter Tage Zusammenhalt herrschte, einer für den anderen einstand.
Immer wieder geht mir dieser Satz einer Frau namens Dunja durch den Kopf:
„Die Arbeit mussten sie euch zuerst wegnehmen, um den Zusammenhalt im Ruhrgebiet kleinzukriegen.“
Derweil die einen heute vom vollzogenen Strukturwandel sprechen, sage ich ja gern, dass gute Strukturen des Ruhrgebiets in der Wandel-Wanne abgesoffen sind. Nicht, dass wir ihnen nachtrauern: den Staublungen, den Grubenunglücken oder der Tatsache, dass Bergarbeiterwitwen sich oft nur über Wasser halten konnten, wenn sie ihren Kostgängern „volle Kost voll“ anboten. Wohl aber darf man um die Selbstverständlichkeit trauern, mit der Marcello, Pjotr und Ali dafür sorgten, dass auch Manfred heil wieder ausfahren konnte. Um die Selbstverständlichkeit, mit der meine Oma neben ihren drei Jungs noch Tante Helga und Tante Gustchen in ihre Familie aufnahm, die ihre Eltern verloren hatten. Denn den Zusammenhalt der Arbeiterinnen im Callcenter (Gnade!), das nun unter dem Hammerkopfturm Einzug gehalten hat, möchte ich mir lieber nicht vorstellen.
Erst kürzlich wurden dem Nordfriedhof eine Bronzeplastik und eine Grabplatte aus Kupfer gestohlen. Man braucht schon Profis und schweres Gerät, so große Symbole der Trauer abzuschleppen. Vermutlich werden sie eingeschmolzen, was übrigens bei den aktuellen Kupferpreisen keinen allzu hohen Profit bringen soll. Fragt sich, ob diese Form plutonischer Transformation zu Vervollkommnung der Räuberei im Ruhrgebiet beiträgt oder die Leiche im Keller dieser Profis wird, deren Geheimnis eines Tages gelüftet wird. Denn Pluto ist „die Kraft, die Böses will und Gutes schafft.“
Vervollkommnung ist das Ziel des Pluto-Prinzips: es gräbt nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes – wie im Ruhrgebiet – in die Tiefe, sondern auch im übertragenen Sinne. Wir fragen nach, bohren, wollen den Dingen auf den Grund gehen, was oft schmerzhaft ist und mit Verlust einhergeht. Pluto lässt absterben, was sterben muss und doch halten wir lange daran fest, wie an einem mit Blut unterschriebenen Vertrag, dessen Wortlaut wir längst vergessen haben. Im positiven Sinne leistet Pluto therapeutische Arbeit. Es bedarf der (eigenen) Wandlung, endlich loslassen zu können.
Trauer kann ein Wandlungsprozess sein, denn Plutos Motto lautet „stirb UND WERDE“. Ich muss loslassen, denn nichts bringt mir den Toten zurück. Ich darf mir überlegen, was so wichtig und wertvoll an ihm war, dass ich es in mir überleben lassen will. Dies gilt für das Lächeln meines Vaters ebenso wie für den Zusammenhalt im Ruhrgebiet – ohne Ansehen von Hautfarbe oder Herkunft.
Unter Tage waren sowieso alle so schwazz wie auf Beerdigung. Oder?
Werbung eines Nordstadt-Bestattungsinstituts,
geknipst von mir. Alle weiteren Farbfotografien sind von Monika Meer, der Spezialistin für die Pluto-Geschichte des Ruhrgebiets