Nein, ich will jetzt nicht die Hundertste sein, die sich über die gesammelten Corona-Panik-Spökskes auslässt. Bereits seit einiger Zeit fällt mir auf, dass wir in hysterischen Zeiten leben.
Meine Aufmerksamkeit wurde gefangen genommen, als ich zufällig in eine Rate-Spiel-Sendung aus den 60er oder frühen 70er Jahren geriet. ARD alpha bringt sowas manchmal. Es spielten zwei Orte gegeneinander, nennen wir sie Böblingen und Wiblingwerde. Gespielt wurde in Böblingen, die Böblingenden stellten also den Großteil des Studio-Publikums. Und siehe da: ihre Kandidatin war die Bessere und ich kriegte richtig was zu staunen: der Großteil des Publikums klatschte brav in die Händen und lächelte – mehr nicht.
Als Frau von 2020 könnte ich mutmaßen: die konnten die Kandidatin nicht leiden!
Denn wenn ich mir ansehe, was das Studiopublikum bei „Wer weiß denn sowas?“ vollführt, also aufstehen, pfeifen, mit den Füßen stampfen und johlen, weil jede von ihnen 6 Euro 50 gewonnen hat, kann schlichtes Lächeln und Klatschen nur Missfallen bedeuten.
Ich weiß, das Publikum wird zu derlei Begeisterungsbekundungen animiert. Sind sie deshalb weniger hysterisch?
Noch doller treiben es die Kandidatinnen bei „Shopping Queen“: Sie stehen keineswegs lange vor Beginn der Show irgendwo in der Landschaft rum. Nein, sie springen hoch, vollführen albernste Verrenkungen und kreischen wie Nix-Gutes „Shopping Queen in Dooooortmund. Yeah, Uuuuh, Quiiek, Yallayalla.“
Ich weiß, auch sie werden dazu animiert. Was sie vorab dermaßen begeistert, habe ich noch nicht raus, muss ich auch nicht rausfinden. Ich wüsste allerdings gern, was passiert, wenn sich eine diesem Affentheater verweigert.
Entsprechend gestalten wir unsere Ausdrucksweise: alles Mögliche ist mega-mega-gigantisch, absolut und genial. Noch heute erinnere ich mich an den Strand-Urlauber, der seine Gattin aufforderte, ins Wasser zu kommen, weil die Temperatur genial sei. (Wie hat sie das bloß gemacht, die Wassertemperatur?)
So sind und werden wir also daran gewöhnt, dass Hysterie, maßlose Übertreibung die Norm ist. Oder wundert sich noch jemand über Sendungstitel, die allesamt mit „ACHTUNG“ beginnen? Dahinter kommt dann eine Banalität wie „Zoll“ oder „Kontrolle“. Wie soll ich das kreischende Achtung davor verstehen?
Kontrolle ist doch das, was nicht nur hierzulande sehnlichst erwünscht wird.
Ein Freund aus der Schweiz, der viel durch Europa reist, berichtet, wie urgemütlich hysterisch es in Frankreich zugeht: der neue Bahnhof von Nizza ist gesichert wie eine Festung, die nur durch diverse Einlasskontrollen betretbar ist. Den Liebsten auf den Bahnsteig bringen fällt ohne Berechtigungsnachweis aus.
Große öffentliche Feste, bei denen sich früher Tausende tummelten, sind zu gemütlichen kleinen Nachbarschaftstreffs geworden. Der Rest der Besuchenden hat entweder die Einlasskontrolle nicht geschafft oder ist vor lauter Angst gleich zu Hause geblieben.
Aber: wir lassen uns unsere Lebensfreude nicht nehmen! Oder ist es pure Lebensfreude, die uns bei Kleinigkeiten stampfen, kreischen und die Arme mega-hoch reißen lässt? Sind das die neuerdings vielzitierten „Gänsehautmomente“?
Wenn es aber angebracht wäre, Gänsehaute des Schreckens oder die Wut zu kriegen, wird über politische Manöver palawert. Ich meine die Fernsehbilder von Schlauchbooten vor Griechenland, auf die geschossen wird, die von „Kontroll“-Organ-Schiffen so bedrängt werden, dass sie kentern. Es machte mich fassungslos, diese Bilder zu sehen und dazu einen Kommentar geliefert zu bekommen, in dem nicht ein Mal „das muss sofort gestoppt werden! Zieht die Menschen aus dem Wasser, statt ihren Untergang zu beschleunigen!“ vorkommt.
Die Reihenfolge ist beachtenswert: bei erstmaliger Ausstrahlung dieser Bilder ging es im Kommentar um Erdogan und die EU. Erst tags darauf war von „humanitärer Katastrophe“ die Rede. Hysterisch wird man hier vermutlich erst, wenn irgendwer auf die Idee kommt, diesen Menschen ein Leben als meine Nachbarin zu ermöglichen. Die könnte ja Corona mitbringen … habe ich eigentlich noch genug Nudeln und Chips auf Vorrat?
Wer trotz Corona noch Lust auf meinen Vortrag hat, ist herzlich eingeladen nach Neustadt an der Weinstraße.
Ich weigere mich allerdings, zu Anfang Nies-Anleitungen kundzutun, hustende Menschen rauszuschmeißen und ebenso, allen die Hand oder gar ein Begrüßungsküsschen zu geben. Denn ich möchte die Waage zwischen Vorsicht und Hysterie halten.