„In der Stille, in der Stille.“ motze ich vor mich hin.
Was ist das denn für ein besoffenes Thema für einen Besinnungsaufsatz? Das sage ich der Kollegin Deutsch jetzt besser nicht. Stattdessen:
„Bin ich gern. Punkt.“
Sie sieht sich um. Da ich noch in Unterrichtslautstärke spreche, könnte ich ihre Autorität vor den Schülern untergraben – nur für den Fall, dass uns jemand Beachtung schenkt.
Kreischen, kloppen, klappern, rennen, röhren, Raserei auf den Gängen.
„Nur drei Worte? Sechs, setzen.“ grinst sie in das Schrillen der Klingel, die zum sofortigen Verlassen des Schulgebäudes auffordert. Das muss der Unterschied zwischen Deutsch und Mathe sein. Eine einfache, aus drei Worten bestehende Lösung ergäbe bei mir die Eins mit Sternchen.
Wir warten noch ein wenig bis alle weg sind. Die Geräuschprobe ist die sicherste. Sie hebt ihr dickes Schlüsselbund und ich ahne, dass es einer Demonstration in Sachen Krach und Stille dienen soll. Ein widerwärtiges Quieken kommt ihr zuvor. Während des Unterrichts vernimmt man es kaum, produziert es oft selbst. Nach dem letzten Klingeln aber provoziert es wieder dieselbe Gänsehaut wie zu Kinderzeiten, wenn man in der Emailleschüssel die Füße gewaschen kriegte und mit den Zehennägeln auf dem Schüsselboden kratzte.
„In der Stille!“ dröhnt Kollegin Deutsch durch den hallenden Gang. „hört man jedes Kreidequietschen auf der Tafel. Die Frage ist, ob man das noch als Stille bezeichnen kann. Unterbricht, beendet es die Stille? Oder macht erst die Stille das Wahrnehmen und die Ortung dieses Geräuschs möglich?“
Wir lauschen. Nun ist natürlich kein Mucks mehr zu hören. Tapp, tapp, tapp, auf Zehenspitzen begibt sie sich zu einer Tür. Noch bevor sie sie aufreißt, gellt sie im Befehlston.
„Das ist euer konkretes Thema bis morgen. Und jetzt verlassen auch Viktoria und Erkan die Schule!“
Erkan ist im Stimmbruch und Viktoria nie über den Warnsignalton eines Säuglings hinausgewachsen. Noch während sie sich lauthals darüber beschweren, dass die anderen Zeit bis nächste Woche haben – oh schreiende Ungerechtigkeit! – schalte ich mein Händi wieder ein. Drei Anrufe in Abwesenheit, immer dieselbe unbekannte Nummer. Ich verlasse mit weichen Knien das Schulgebäude.
„Los, ruf zurück. Ich bleibe bei dir.“
Ich versuche es. Tuttuttutt, besetzt. Ich hasse dieses Geräusch, ich hasse dieses Händi, ich würde es am liebsten vor die Schulwand knallen, auf dass es klirrend zerspringt. Stattdessen lasse ich mich auf die Stufen sinken, der Hausmeister schließt mit einem Knarzen die Tür ab. Ich versuche es wieder, bete, dass es nicht der Anruf ist, den ich so fürchte.
BOOOP, eine LKW-Hupe.
„Soll ich dich nach Hause fahren?“
Ich schüttle den Kopf. Zu Fuß bin ich schneller. Einmal durch den Bahnhof, den Keuningpark, über die Leopoldstraße, Ende.
„Tüddeldüddeldümm“, eine Werbemaßnahme der Teelekomm in der Bahnhofsvorhalle. Dazu Gedränge, Gelaber, Geschubse, quietschbunte Flyer und Lautsprecheransagen durchzogen von Rollkoffern.
„Der Zuch, der kommt gleich.“
Soll das ein Scherz sein? Nee, das ist Dortmund. Kurz, knapp und punktgenau, er dröhnt über mir, als ich durch den Tunnel unter den Gleisen hetze.
Gewusel am Busbahnhof. Ich kämpfe mich durch Koffer, die darauf warten, eingeladen zu werden. Koffer? Welcher Idiot hat bloß die Trollis erfunden? Ratter, ratter, ratter kommen sie aus dem Bahnhof zum Bus gerollt. Dass ihr zu verladendes Gepäck den Weg verstellt, hat die Reisenden noch nie interessiert. Deshalb gibt es keinen Rasen mehr neben dem Busbahnhof, aber Matsch. Quatsch, quatsch, quatsch macht es, als meine Mitleidenden und ich hindurchstaksen. „Bissken vorsichtiger, junger Mann!“ kreischt eine Dame den Busfahrer an. „So’n Trolli ist doch kein Stück Holz.“
Bin ich etwa eines? Egal. Die Ampel an der Steinstraße ist Rot, ein Bus braucht seinen großen Wendekreis und sein Fahrer muss dies den Autofahrern hupend nahe legen. Sie hupen zurück, welch‘ schönes Konzert. John Cage hätte keine Freude daran gehabt. Zuviel entkräftet, das Nichts macht achtsam. Nix haben wir aber nicht – mehr.
Ab durch den Keuningpark. Da es hier ruhig ist, sehe ich wieder auf mein Händi. Keine neuen Anrufe. Ist das nun gut oder schlecht? Gaha! Da renne ich mitten durch’s Bogenschießen für Jugendliche. Super, das nenne ich Leistung: Lehrerin vom Pfeil durchbohrt, weil sie auf ihr stummes Händi starrte, statt das Pfffft zu vernehmen. Umgekommen in der Stille. Der kleine Jewgenij würde mir diesen Tod gönnen, weil ich sein Smartphone oft genug konfisziere. Der Klingelton ist dem Knattern eines Maschinengewehrs entlehnt, was dem Klischee eines Ukrainers alle Ehre macht.
Dreiräder mit Klingeln, Schreierei um die Eroberung der Skateboards, Fußbälle mit Zubrüllerei und ich mittendurch wie Moses durch’s Rote Meer.
Als ich die Spielstraße des Keuninghauses hinter mir habe, gelingt endlich der Rückruf.
„Frau Petermeier, wie schön dass Sie sich melden. Frau Petermeier, darf ich Ihnen den sehr viel günstigeren Vertrag….“
Ich werd‘ nicht mehr! Klopft mir etwa seit zwanzig Minuten das Herz bis zum Hals, weil ich vergessen habe, wie ich heiße?
Die Dealer am Ende des Parks sollten Unterricht bei Kollegin Deutsch nehmen. Nein, nicht der Sprache halber, die beherrschen sie – fast. Doch wenn sie nicht wollen, dass solche wie ich ihre Angebote hören, könnten sie sich mal an einem Besinnungsaufsatz über das schöne Thema
„In der Stille“ versuchen.
„Bin ich gern“ reicht nicht, sagt die Deutsche. Mir aber. Klappe zu, Affe tot, geschafft, zu Hause. Kein Ton mehr! Ich lehne mich mit dem Rücken an meine Wohnungstür, weil das malerisch ist, weil man das im Film so macht. Bild der Erleichterung.
Rotes Blinken brüllt mich an. Herzken, du brauchst dich gar nicht erst zu beruhigen, der Tanz geht weiter. Das Gefühl von Stille hat nichts mit Geräuschen zu tun. Warum blinken Anrufbeantworter Rot? Weil sie nicht antworten? „Bitte sprechen Sie nach dem Piepton.“ Signalton, bitteschön, wir sind doch nicht auf der Kirmes.
Rot rot rot, rot rot rot. Du kriegst gleich eine Herzattacke. Oder du wirst für verrückt erklärt, weil du in der Stille mit dir selbst sprichst. Ich schleiche mich ran an das Ding. Rabumm, rabumm, rabumm. Ich knicke um, dafür brauche ich nicht mal Stöckel. Bin ja Lehrerin und wandele auf Birkenstöckern, die ich nun von mir werfe, was die quiekende Katze in den falschen Hals kriegt. Lasse mich in den Sessel fallen.
Sehe hoch: BLAU.
Ich versinke im Blau, es kühlt. Es zieht sich zurück, ganz leise. Oben, da wo das Bild hellblau ist. Braune Spuren, Kleckschen, Flecken, eine geschwungene Linie. Darunter ein noch helleres Blau, das hervorkommt. Mein Blick wandert nach unten, das Blau wird dunkler, wölbt sich vor, zieht sich wieder zurück. In der Würzburger Residenz gibt es ein blaues Zimmer, in dem der Fürstbischof schon im 18. Jahrhundert seine Besucher warten und warten ließ, auf dass sie ihr Mütchen kühlen sollten. Nicht schlecht, Herr Specht. Dort, im unteren Drittel meines Bildes ist ein kleines weißblaues Blubbern. Es ist ein fröhliches Blubbern. Lächle mal und spüre, wieviel weniger Gesichtsmuskeln du dafür brauchst. Und dann tauche lächelnd vom Mittelblau ins dunkelste Blau, dort unten links. Keine Angst, du gehst nicht unter, denn darin ist ein rostbrauner Fels, auf dem du ausruhen kannst. Bis du blau genug bist, um den Anrufbeantworter ohne Herzklopfen abzuhören. Was für ein besoffenes Thema, hihi. Ich bleibe bei der Drei-Wort-Lösung: STILLE IST BLAU
Astrid Petermeier, 6.1.2016
Jette Dorka, Rostblau, Fotografie auf Leinwand/Auflage