Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Claudia Dorka: Laut. Los. Still.

Schmerzen schlagen in Wellen durch ihre rechte Wade. Nicht Fuß, nicht Bein, nein nur Wade, rechts. Alles bündelt sich genau dort. Es brennt orange-blau in diesem eng begrenzten Stück Fleisch. Und aus unerklärlichen Gründen schmeckt es auch feuerrot im Mund.

Aufstehen – sofort.
Bewegen – gleich.
Flucht – jetzt.

Sie atmet tief durch und bleibt.
Den Schmerz im Körper als Chance erleben, um den Brainfuck im Kopf zu entgehen. So viel zur Theorie. Praktisch durchlaufen sie gerade viele Erscheinungen gleichzeitig: Schmerz – Gedankenrasen – innerliche Kampfansagen – lautlos dröhnende Wuttiraden.

Toll.
Und dafür bin ich extra hierhin gekommen.
Niemand kann sagen, ich sei gezwungen worden. Ergo gibt es niemanden außerhalb mir selbst, auf die ich sauer sein könnte, dem ich die Schuld geben könnte, den ich mal ordentlich anmaulen könnte.
Nix is‘ mit externer Dampfentladung.
Nur ich, mein Körper, der Raum und dieses Kissen.
Basta.

Mit ihr sitzen 60 andere, zusammen und doch alleine, auf ihren Kissen.
Der Raum scheint sich in vielen Atemtempi facettenreich mal zu weiten, mal zu verengen.
Wie ein eigener Organismus wirkt er.
Alles scheint dort verlangsamt.
Auch die Staubpartikel, die vor ihr durch die Luft schweben.

Atmen!
Puh, nicht-denken, wie soll das gehen?!

In gefühlten Nano-Intervallen sausen Sätze, Fragmente, Bilder durch etwas, das sie „da-oben“ nennt.

Denkt und filmt sich der ganze Quatsch echt im Hirn?
Woher weiß ich das?
Vielleicht denkt ja der Arm, die Ferse oder ein ganz anderes Feld außerhalb meiner Selbst, das irgendwie ähnlich einer Drohne um mich herum saust?
Vielleicht…..
Atmen!

Ihr Brustkorb hebt und senkt sich.
Sie fühlt ihren Hintern auf dem Kissen.

Fett und…
Atmen!

Das Ende ihres Blickfeldes zieren zehn nackte Zehen auf einem Kissen ihr gegenüber.
Die Rückseite ihres Rückenfühlfeldes spürt ein weiteres Wesen, atmend.
Rechts von ihr eine rote Sandsteinsäule, verlässlich, kühl, da, ruhig.

Atmet die auch?

Links von ihr, Seit an Seit, ein weiteres Wesen, atmend.
Schräg rechts gegenüber….

Atmen!

Sie sitzt, fühlt, spürt.
Wenige Sekunden hält dieses „alles-fliesst-in-alles-über-nichts-ist-fest-und-alles-durchlässig“ an.

Also schräg rechts gegenüber kämpft seit Tagen eine ….
Atmen!
Ganz zu schweigen vom Herrn auf dem Gartenstuhl links gegenüber…
Atmen!
Herrgottnochma. Vorhin ging es doch. Neulich war es noch viel einfacher.
Wieso….?
Autsch!!!

Ihre eingeschlafenen Beine kribbeln kreischrot und fühlen sich nach Ameisenhorden auf Speed an.
Diese Körpersensation schreddert auf der Stelle ihr Denk-Gebrabbel.

Das Kribbeln annehmen.
Hierbleiben wollen.
Letting go off…..
Atmen!

Für einen kleinen Moment so etwas wie Ruhe, so wie im Auge des Sturms.
Trotz aller wandernden Sensationen, aufwühlender Emotionen und gedanklicher Affenjagd urplötzlich das hier: „kein-Kampf-jetzt-hier-außerhalb-von-Zeit-präsent-da“.

Oh klasse!!

Verdammt.

Diese kindische Bewunderung hat das Präsenzzeitfenster in Sekundenschnelle zugeknallt.
Wir haben Tag vier von sieben.
Vierundzwanzig Stunden plus x-Minuten Zazen hinter und genau vierundzwanzig Stunden Zazen vor ihr.
Alles drängt in ihr, nach einer Uhr zu sehen.

Atmen!

Die Hoffnung: wenn das „da-oben“ sich ausgerast hat und der Körper müd geschmerzt ist, dann kann das Unaussprechliche geschehen.

Das, was ohne Worte ist.
Kein-Ich.
Kein-Jetzt.
Kein-Dann.
Kein-Damals.
Kein-Nichts.
Kein-Kein.

Kann sein.
Kann nicht sein.

Mal passiert es.
Mal nicht.

Jetzt gerade gar nicht.

Atmen!

Sitzen!

Die Denk-Drohne saust gnadenlos um sie herum:
Bringt der Typ doch seinen Gartenstuhlhochlehner in grau-blau gestreift mit zu einem Sesshin….Damit er es bequemer hat….und nu thront er da…Arme bequem rechts und links auf die Holzlehnen gelegt…hat der das jetzt bequemer?…bewunder ich den jetzt?…ist der mir jetzt peinlich?…

Ein kicherndes Glucksen formiert sich in ihrem Hals und will sich hurtig entladen.

Oh nein, jetzt nicht auch noch eine schwache Lache….Schnell den Blick abwenden…Du sollst atmen!…ach scheiß doch die Wand an…mein Hirn will was zu tun haben…ist doch meine Zeit…wer soll mich denn erwischen…oh was‘ ne calvinistische Prügelhaltung…du verschwendest Deine Zeit, wenn Du nicht ordentlich…och jo…dann verschwende ich eben.

Das kichernde Glucksen ist immer noch da, hat sich genüsslich am Kehlkopf eingerichtet und wartet, wie ein Skispringer oben auf der Schanze, auf das Start-Fähnchen der inneren Humorbeauftragten: Start frei zum allumfassenden Lachen.
So einem, das die Tränen in die Augen treibt.
So ein tiefes Lachen und Kichern, lustvoll und ansteckend wie Kinder das können.

Atmen!
Atmen!
Atmen!

Boh jetzt nicht auch noch das…Ich werde peinlich sein…Gegen Regeln verstoßen…Ja und…Freedom is another word for nothing left to loose…help I need somebody…morning has broken…T-N-T- nanananana…der Theodor, der Theodor, der steht…weisse Flieder wieder…mercy mercy me…oh nein!…jetzt aber nicht auch noch vor lauter Übersprungsdenkgeschworbel ne Brainjukebox mit grausliger Sortierung….

Atmen!
Wahrnehmen!
Sitzen!
Auf den Körper konzen…

Jetzt juckelt die schon wieder auf ihrem Ikea-Hocker rum!… davor zwei Meditationskissen übereinander, Füße drauf, darum zwei schreiend bunte Decken gewickelt, um den Hals drei Ketten, rechter Arm vier dünne Metallarmbänder, linker Arm dito… ok, irgendwen gibt es immer…Mitleid hab ich ja schon… sie sieht aus wie eine überbordend dekorierte spillerige Weihnachtstanne und sie klingt auch so…jetzt schon wieder…boah nä…seitdem sie da sitzt klingelt und rutscht die sich durch mein Gemüt…und meine Aufmerksamkeit…schon wieder…ich höre es nur noch klingeln…zur Abwechslung rutscht jetzt auch noch die Decke runter…jetzt stampft sie tatsächlich noch mit den Füßen auf ihren Meditationsfußkissenturm…

Und dann geschieht alles gleichzeitig.
Die Decken rutschen auf den Boden – die Armbänder klirren – die Halsketten klingeln – der Fußturm sinkt irgendwie seufzend zu Boden – eine Naht im unteren Kissen löst sich und entlässt mit Furz ähnlichen Tönen getrocknete Dinkelspelzen aus dem prallgefüllten Kissenbauch – das trockene, durchdringende Geräusch der zwei aufeinandergeschlagenen Takus beendet diese Sitzperiode – ihr haltloses Lachen geht im Füße scharrenden Aufbruch der Anderen gen Mittagessen unter.

Claudia Dorka, Februar 2016

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