Ich sag’s doch immer: samstags geht der Pöbel aus! Um sich volllaufen zu lassen und in selbigem Zustand die ganze Breitseite meiner schönen schwarzen Limousine mitzunehmen. Die Werkstatt wird Wochen brauchen, das wieder hinzukriegen. Und als ob das alles noch nicht reichte, stehe ich ausgerechnet am Rosenmontag vor einem Bus, dessen Fahrer es beim Öffnen der Tür gefällt, die Meute mit albernem Federschmuck auf dem Kopf und einem lauten „wolle-mer-se-rinlasse?“ zu begrüßen.
Mein Kostüm geht als solches durch und ich darf mitfahren. Der Rest der Fahrgäste scheint geistig auf der Höhe dieses Busfahrers zu sein, wie ich aus dem Helau-Alaaf schließe, mit dem man zurückgrüßt. Pardon: der Busfahrerin. Die Stimme, mit der sie das Theater an jeder Haltestelle wiederholt, ist weiblich. Was die Sache auch nicht besser macht. Sollen sie sich doch beim Karnevalsumzug alle besaufen wie die Ketzer. In meinem Büro wird es ausgleichsweise selten ruhig und still sein – sofern ich die Busfahrt dorthin unbeschadet überstehe.
Danach sieht es im Moment allerdings nicht aus. Da sich der einzige Einzelsitz vorn bei der Fahrerin befindet, habe ich auf einem Vierer Platz genommen. Nun quetschen sich gleich fünf Jugendliche zu mir – mit Migrations- und ohne Menstruationshintergrund, wie man heute so schön sagt. Mich ans dreckige Fenster drücken, um Abstand zu halten, nützt wenig. Sie rücken sofort nach.
„Was stinkt’n hier so?“ fragt einer.
Sie schnüffeln herum, als seien wir im Schweinestall. Einer fährt sich mehrfach mit ausgestrecktem Zeigefinger in den Hals, ein anderer untermalt die Vorführung mit unappetitlichen Geräuschen. Auch ich ziehe Luft durch die Nase, um herauszufinden, was sie dem Erbrechen nahe bringt.
„Ey, Olle, ey, da brauch’se nich’ so tun, als ob’se das nich selbst wärst.“ grinst mich der Kleinste und Dunkelhaarigste breit an.
„Sprechen Sie von oder mit mir?“ herrsche ich ihn an.
Gegröle, als habe ich einen grandiosen Witz erzählt.
„Die Tusse braucht’ne Dusche, würdichmasagen.“ macht er weiter. Er kommt mir vor wie der kleinwüchsige Clown, der unbedingt auffallen muss. Seine Rede ist von meinem Parfüm, dessen teuren Duft sie wohl nicht kennen. Was sie sich leisten, sind Colafläschchen.
„Dusche! Dusche is’ gut!“ brüllt einer und schüttelt das seine. Augenblicklich ist mir klar, was sie vorhaben. Mein Kostüm! Oh nein! Ich sehe mich hilfesuchend um, doch alle anderen Fahrgäste starren nur auf die Fahrerin. Meine Güte, was zieht die für eine Show ab, statt sich um die Sicherheit in ihrem Bus zu kümmern. Die Jungs schütteln ihre Flaschen, der erste dreht bereits am Verschluss. Ich versuche, aufzustehen, zu entkommen. Was misslingt, ich habe mich von ihnen einquetschen lassen.
„Mama, guck mal, ein Huhn fährt unseren Bus!“
Dieser kindliche Ausruf ist so abwegig, dass selbst die Jungs sich zur Fahrerin umdrehen. Meine Stöckel bohren sich in ihre Füße, als ich aufspringe und nach vorn renne. Geschafft! Ich stehe neben der Fahrerin. Sie trägt wirklich ein Huhn auf dem Kopf. Dass die Stadtwerke solche Albernheiten erlauben!
„Gagagack“, schreit sie in ihr Mikrophon. „Alle schön an der Stange? Festhalten für den Anflug auf die Haltestelle!“
Sie bremst und sieht mich an. Ich traue meinen Augen nicht, als mir klar wird, wer sich unter diesem dummen Huhn befindet.
„Lissie?“
„Helga, altes Hühn!“ Lissie konnte noch nie leise sprechen. Es hätte ihres Mikros gar nicht bedurft: der ganze Bus hätte auch so „Helga-altes-Hühn“ gesungen. Nichts wie raus hier.
Lissie! Meine liebe alte Freundin Lissie. Ohne sie hätte ich den Lernmarathon für das juristische Staatsexamen nie durchgehalten. Lissie sorgte für leichtes Essen, Lissie übersetzte die schwierigsten Paragraphen in witzige Fälle, Lissie rief mitten in der Nacht an, um mir Examensfragen zu stellen. Auch wenn wir uns über die Jahre aus den Augen verloren haben – ich weiß immer noch, dass ich dieser wunderbaren Frau etwas schuldig bin!
Warum aber treffe ich die tolle Lissie in einem Bus und nicht in einer Kanzlei wieder? Nicht, dass ich sie gern zur Gegnerin auf fachlichem Gebiet hätte. Sie war brillant als Juristin. Doch mit brillanten Juristinnen kann man hierzulande die Straßen pflastern. Quoten hin, Gleichberechtigung her – bis auf ganz wenige Ausnahmen, zu denen ich gehöre, werden die besten Stellen immer noch mit Kerlen besetzt. Also hat es meine Lissie auch erwischt. Und wie ich sie kenne, fährt die eher einen Bus, als arbeitslos Zuhause zu sitzen.
Meinen Chef davon zu überzeugen, ihr eine Chance zu geben, ist ein Kinderspiel. Über mir gibt es nur noch einen und der weiß, wie gut ich bin, wie sehr er auf mein Urteilsvermögen bauen kann. Lissie, jetzt kann ich endlich mal für dich da sein!
Zwei Telefonate von Amt zu Amt und ich habe ihren Dienstplan. Morgen wird sie in aller Frühe an meiner Haltestelle vorfahren.
„Lissie, einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich dir!“
Lissie sieht geschafft aus. Kein Wunder, sie sitzt seit zwei Uhr nachts am Steuer und ich möchte lieber nicht wissen, wer ihren Bus in diesen Saustall verwandelt hat. Himmel, das ist doch wirklich nicht unser Niveau!
„Hast du den Sonnenaufgang gesehen?“ strahlt sie mich an. „Traumhaft, wenn man nach Holzen hochfährt.“
Ich setze mich vorn zu ihr auf den Einzelsitz.
„Wie bist denn du im Bus gelandet?“ eröffne ich das Gespräch, gebe ihm gleich die entscheidende Wendung. Denn in 15 Minuten sind diese Fahrt und ihre Schicht beendet.
Lissie deutet auf das nicht-mit-dem-Fahrer-sprechen-Schild und sieht durch den Spiegel auf einen Mann, den ich für einen Arbeiter gehalten hätte. Kontrolliert wird sie also auch noch. Wie unwürdig!
Auf der B1 geraten wir in einen Stau. Lissie lacht in ihr Mikro.
„In jeder dieser hübschen Limousinen sitzt nur eine Figur.“ verkündet sie den Fahrgästen. „Wären die alle hier bei uns, kämen wir schneller vorwärts.“
Da muss sogar ihr Aufseher lächeln. Endlich passieren wir eine Baustelle, verlassen die Autobahn, fahren die nächste Haltestelle an.
„Zwanzig Minuten Verspätung!“ schimpft ein alter Mann von der Sorte Komisskopp. „Können Frauen nicht mal am Steuer pünktlich sein?“
Auf ihre Antwort wartend, versperrt er den Weg für alle, die noch einsteigen wollen.
„Wären da nicht eine Baustelle auf der B1 und ein Stau gewesen, hätte ich Sie pünktlicher abgeholt als den meisten Männern lieb ist. Aber wenn Sie jetzt nicht sofort den Eingang freigeben, haben wir gleich 25 Minuten Verspätung.“
Der Alte stellt sich verdattert neben meinen Sitzplatz. Ich lache Lissie stolz zu: ihre Schlagfertigkeit dürfte jeder Staatsanwalt gefürchtet haben.
„Der Käse ist gegessen, Helga. Lachen darfste im Bus, aber nicht vor Gericht.“
Nächste Haltestelle. Lissie verkauft Fahrscheine, der Alte dirigiert die Neueinsteiger.
„Ursache für die Verspätung sind eine Baustelle und ein Stau. Wenn Sie sich sofort setzen, geht es schnell weiter.“
Ich kann es kaum fassen. Er spielt dieses Spiel mit wachsender Begeisterung bis zur Endstation. Dort wird Lissie selbst vom Aufseher gelobt.
„Feierabend?“ frage ich sie.
Sie grinst. Müde, doch lächelnd schwenkt sie ihren Arm durch den leeren Bus, greift nach Plastikhandschuhen.
„Das ist doch das Letzte, dass du hier auch noch die Putze geben musst.“
„Möchtest du vielleicht in einem Drecksbus weiterfahren, wenn der Kollege gleich ablöst?“
„Wie wär’s mit einem Kaffee auf unser Wiedersehen?“ lade ich sie ein.
Sie fegt Sonnenblumenkerne unter den Sitzen hervor, hebt mit spitzen Fingern eine Apfelkitsche auf.
„Kaffee? Mensch, Helga, wie soll ich damit denn einschlafen? Im Schichtdienst haste sowieso Schlafstörungen.“
Was für eine Karriere!
Mein Chef überrascht mich mit einem Termin für ein Vorstellungsgespräch. Er möchte Lissie kennenlernen. Ich soll sie einarbeiten und sie kann zum nächsten Ersten in meiner Abteilung anfangen. Herr Dr. Pirschke verlässt uns und mein Chef ist völlig sicher, dass der von mir empfohlene Ersatz der Richtige ist. Leider ist sie im Telefonbuch nicht zu finden und ihre Privatadresse rücken die Stadtwerke nicht mal mir raus.
Also sitze ich am nächsten Tag wieder in ihrem Bus, diesmal auf einer Strecke, die zunächst durch mir unbekanntes Terrain führt. Die Nordstadt, Dortmunds internationalster Stadtteil. So ähnlich stelle ich mir Istanbul vor. Man parkt vor der türkischen Bäckerei in dritter Reihe. Lissie hupt und flucht und es geschieht – nichts. Also nimmt sie sich Zeit für mich, die ich wieder vorn bei ihr sitze.
„Erzähl’, Helga, wo bist du denn gelandet?“
„Ich leite die Rechtsabteilung des Sozialamtes. Da hast du keine humorlosen Richter vor der Nase.“
Lissie lacht.
„Es ist ruhig, feste Arbeitszeiten und lauter nette Kollegen. Einzig hätte ich gern noch eine Frau in meinem Team.“
„Das glaube ich dir gern.“ sagt Lissie und ich wittere Morgenluft.
„Hättest du nicht…“
Doch als ich Lust sagen will, steigt eine mit Fladenbrot beladene Türkin in ihr Auto. Lissie streckt den Kopf aus dem Fenster.
„Fünf Minuten Verspätung!“ ruft sie der Frau zu. „Wundern Sie sich nicht, wenn ihr Kind zu spät von der Schule kommt.“
Es geht endlich weiter, ganze 500 Meter bis zur Haltestelle Nordmarkt. Dort steigt eine Gruppe Teenagermädchen ein. Geschminkt bis zur Bewusstlosigkeit. Ich betrachte die Mädchen amüsiert und sie tun mir sogar einen Gefallen: öffnen eine große Tüte mit Erdnüssen, lassen leise die Schalen knacken, um sie nach dem Auspulen der Kerne auf dem Boden zu verteilen.
„Du hast doch nicht wirklich Jura studiert, um hier die Bus-Putze zu geben.“
„Das ist ein Gelenkzug und ich möchte lieber nicht sehen, wie du den um die Ecke bringst.“
Lissie sieht mich biestig an. Ich wollte sie nicht beleidigen.
„Na, achte mal auf die Damen mit dem DSDS-Syndrom hinten in deinem Bus.“
Lissie sieht in ihren Spiegel.
„Danke.“ flüstert sie mir zu und dröhnt ins Mikro.
„Hey, Mädels, aber sofort die Schalen wieder aufgesammelt!“
Verächtliche Blicke aus Augen, die blau geschlagen wirkten, wüsste man nicht, welchem Superstar sie nacheifern.
„Willst du uns sonst rausschmeißen?“
„Wieso das denn? Ihr sitzt im Casting-Bus: wer nicht aufsammelt, muss nach vorne kommen und singen!“
Das wirkt. Die Mädchen tun wahrhaftig, wie ihnen geheißen.
„Hör mal, Lissie, ich habe eine fantastische Idee.“ setze ich erneut an.
Sie winkt ab. Ahnt sie etwa, was ich vorhabe? Nein, unmöglich. Diesen Job kann sie nicht freiwillig machen. Doch mein Versuch, ihr die ruhige und gut bezahlte Stelle anzubieten, scheitert an dem, was sie bereits ankündigte: Schulschluss! Eine Horde lärmender, kreischender, hüpfender, schubsender Kinder stürmt den Bus. Ich halte mir die Ohren zu, sehe Lissie völlig entnervt an.
„Wenn der rothaarige Junge mit der blauen Tonne sich nicht sofort festhält, fahre ich nicht los.“
Es wird keineswegs leiser im Bus, doch die wilden Bewegungen verebben. Wenn ein Kind sich erkannt fühlt, wissen auch die anderen, dass sie beobachtet werden. Ich bin beeindruckt. Lissie hat ihren Bus bestens im Griff. Bis die Kinder ausgestiegen sind, ist ob des ohrenbetäubenden Lärms kein Gespräch möglich. Ich bin selig, als der Spuk vorbei ist. Meine Trommelfelle sirren, mir ist schwindelig, mir ist speiübel, weil bei jedem Öffnen der Türen die Abgase in den Bus dringen.
„Erzähle,“ fordert Lissie mich auf.
Ich sehe sie nur groß an. Fast weiß ich schon nicht mehr, warum ich in diesem Bus sitze.
„Deine Idee.“ Lissie scheint der ganze Irrsinn nichts auszumachen.
Ich schüttele mich wie eine Katze.
„Du musst an der nächsten raus.“ erinnert sie mich. „Also jetzt oder nie.“
Im Moment bin ich für nie. Nein, nicht wirklich. Doch jetzt ist einfach der falsche Moment.
„Morgen.“ sage ich leise.
„Hähä. Da müsstest du eine Nachtschicht einlegen. Da bin ich auf dem NE 13.“
Ich lege eine Nachtschicht ein. Denn das Vorstellungsgespräch soll übermorgen stattfinden. Ich halte die Nachtschicht für ideal, bin sicher, dass wir nachts mehr Ruhe haben. Lissie staunt, als ich einsteige. Sie hätte mich nicht für eine Diskonudel gehalten, sagt sie.
„Schlimmer als der Schulschluss können ein paar Diskofreaks auch nicht sein.“ gebe ich zurück. „Ich muss mit dir reden.“
Die nächste Haltestelle liegt gleich an einer Dönerbude. Entsprechendes halten die Fahrgäste in den Händen, selbstredend im XXL-Format.
„Drei Minuten“, begrüßt Lissie sie durch einen Außenlautsprecher, öffnet die Tür aber nicht. Sie sieht mich an.
„Kurze Pause, muss auf den Anschluss warten. Du wolltest mir doch was erzählen.“
Ich starre fasziniert aus dem Fenster. Die Jungen drücken sich ihre Döner mit einer Geschwindigkeit in den Hals, als ginge es um ihr Leben. Mir fällt auf, dass sie schwanken. Sie müssen sturztrunken sein. Schaurig.
Lissie sieht mich an.
„Also meinen Fahrplan kann ich jetzt nicht nach deiner Erzählgeschwindigkeit richten. Außerdem brauche ich deinen Sitzplatz. Die müssen garantiert kotzen und dann will ich sie hier vorne bei der Tür haben.“
Ich finde etwas weiter hinten einen Platz. Wir haben ja noch die ganze Nacht, sage ich mir. Da möchte ich nicht in der Nähe sein, wenn Lissies Ankündigung wahr wird. Abgase, Schlafstörungen, Auswurf von Jugendlichen – mein Angebot muss sie einfach beglücken. Ich bin so froh, endlich etwas für sie tun zu können. Derweil ich bereits überlege, ob es überhaupt gut ist, sie in meiner Abteilung zu behalten – frau sollte Arbeit und Freundschaft zu trennen wissen – bahnt sich auf der Drehscheibe des Gelenkbusses die nächste Katastrophe an.
Zwei Glatzen in Bomberjacken gehen auf einen Penner los, der selig auf seinem Sitz schläft. „Stinker!“ … „sowas brauchen wir in Deutschland nicht!“ … „früher hätte man den…“
Wenn sie jetzt auch noch „vergast“ sagen, muss doch jemand einschreiten. Es sind ausreichend starke Männer an Bord. Doch alle drehen sich weg, sind urplötzlich taub geworden. Der Penner wird wach, sein Blick ist voller Angst.
Ich stehe auf, gehe nach vorne zu Lissie. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich still sein soll. Was ist aus ihr geworden? Haben wir nicht Jura studiert, um für eine bessere Welt zu sorgen?
„Ich habe Pfefferspray dabei.“ flüstere ich ihr zu.
Sie verdreht die Augen. Ich sehe durch ihren Spiegel. Sie haben den Mann bereits vom Sitz gezerrt.
„Lass das bloß stecken.“ zischt Lissie und deutet auf eine Notruftaste. „Uns kommt ein Polizeiwagen entgegen.“
Bis die da sind, kann der Mann schwer verletzt oder tot sein. Ich ziehe das Spray aus meiner Handtasche. Lissie nimmt eine Hand vom Steuer, greift danach, zieht es mir weg. Im Bus ertönt Gebrüll. Sie zwingen den Penner, Kniebeugen zu machen, schlagen und treten ihn dabei.
„Ich sage dir, was du tun musst.“ Lissie zieht mich zu sich, gibt mir leise völlig irre Anweisungen.
„Los, Helga, vertrau‘ mir!“
Ich gehe auf die Glatzen und den Penner zu. Meine Knie schlottern, mein Lächeln gerät zum Grienen. Ich bin nur noch drei Schritte entfernt, bete, dass der Polizeiwagen wirklich unterwegs ist.
„Andreas!“ schreie ich viel zu laut.
Die Glatzen drehen sich erstaunt zu mir um.
„Mensch, Andi. Ist das schön, dich zu sehen.“
Der Penner lächelt schwach. Meine Stimme steigert sich zum Diskant.
„Paule und Herbert sind auch da! Die ganze alte Clique.“
Die Glatzen sehen verwirrt hinter mich. Das kann heikel werden. Ich darf mich jetzt nicht umsehen, muss Opfer und Angreifer im Blick behalten. Der Penner winkt jemandem hinter mir zu.
„Andi, altes Haus“, kreische ich. „Ich bin’s, die Helga!“
Wieso fällt mir jetzt nur mein eigener Name ein? Bin ich wahnsinnig?
Ein Luftzug, der Bus hält. Die Glatzen springen zur bereits geöffneten Tür und der Polizei direkt entgegen. Der Penner legt seine Arme um mich. Er stinkt nach Pisse und weint in mein Jackett. Der ganze Bus gibt mir donnernden Applaus. Diese Feiglinge! Ein feiner Pinkel kommt auf mich zu, befreit mich aus den Armen des Penners, schüttelt meine Hand.
„Bravo! Paradoxe Intervention!“
Ich sehe mich nach Lissie um. Sie sitzt kreidebleich auf dem Fahrersitz, winkt immer noch wie mechanisch mit dem Arm eines trunkenen Dönerfressers. Der wohl vor lauter Schreck vergessen hat, dass er sich eigentlich übergeben wollte.
Als wir aus der Polizeiwache kommen, fangen wir beide zu zittern an.
„Woher wusstest du, dass der Trick funktioniert?“
Lissie grinst schief.
„Wusste ich nicht. Habe ich letzte Woche erst in einer Schulung gelernt. Nicht den Beschützer spielen, sondern etwas Absurdes tun. Alles andere macht diese Typen nur noch aggressiver.“
Sagt sie mir da gerade, dass ich für sie den Forschungshasen spielen durfte?
„Dafür bist du mir was schuldig, Lissie.“ krächze ich.
„Alles, was du willst.“
Ich gebe ihr meine Karte. Sie verspricht, morgen pünktlich um Zehn in meinem Büro zu sein. Damit ich sie meinem Chef vorstellen kann.
„Heute“, lacht sie noch, „Deinem Chef werde ich schon klarmachen, warum die Heldin zu spät kommt.“
Himmi, ist die durcheinander! Hat wohl immer noch nicht kapiert, was ich mit Vorstellung meine. Ach, ich weiß, dass Lissie morgen früh wieder unschlagbar sein wird. Drei Busfahrten lang hat sie mir bewiesen, wie man die Lage unter Kontrolle behält – und genau darum geht es in ihrem neuen Job.
Ich eile kurz vor der verabredeten Zeit hinunter zum Haupteingang des Amtes, um Lissie abzuholen und im Aufzug kurz zu präparieren. Oh, sie ist schon da!
Sie steht mit zwei Personen im Eingangsbereich, von denen ich eine nur zu gut kenne. Es handelt sich um den kleinen Migranten-Clown, der mich mit Cola duschen wollte und um eine dicke Frau, der er wie aus dem Gesicht geschnitten ist. So eine Busfahrerin kennt aber auch einfach jeden.
„Guten Morgen“, begrüße ich die drei und sehe den Jungen an. Peinlich berührt sieht er unter sich.
„Tja, man trifft sich immer zwei Mal.“
Ich kann mir ein triumphierendes Lachen nicht verkneifen, umarme Lissie.
„Na bestens,“ strahlt sie mich an und stellt mich vor. „Das ist meine Freundin Helga. Mit der können wir gleich darüber reden.“
Sie will mir Papiere in die Hand drücken. Diesmal befinden wir uns aber auf meinem Terrain und von diesem Bengel lasse ich jetzt weder Lissie noch mich vereinnahmen.
„Später, Lissie.“ sage ich bestimmt. „Ich muss dich ganz dringend unter vier Augen sprechen.“
Der Junge seufzt verzweifelt, verzieht flehentlich sein Gesicht.
„Es geht nicht um mich. Es geht um meine Omma. Is‘ doch ne alte Frau.“
Das sehe ich selbst. Ich gebe der Dame freundlich die Hand, Lissie nickt ihr aufmunternd zu. Doch bevor sie etwas sagen kann, habe ich Lissie schon zum Aufzug gezogen.
„Ich kläre das!“ ruft Lissie ihnen zu, um mich dann im Aufzug zu fragen, ob ich sie etwa hergebeten habe, ihr einen Job als Beraterin anzudrehen. Da kann ich ja nur lächelnd zustimmen. Sie textet mich vier Stockwerke lang damit zu, dass man Frau Yüksel zu Unrecht die Grundsicherung-im-Alter gekürzt habe. Was für ein Glück, dass sie die beiden getroffen hat.
„Lissie,“ unterbreche ich sie. „Ich wollte dir wirklich einen Job anbieten.“
Sie glotzt mich an wie ein Mondkalb, hat sich aber schnell wieder im Griff.
„Scherzkeks. Da wüsste ich ja gleich, wie meine erste Amtshandlung aussähe.“
Und schon habe ich die Papiere in der Hand, werfe einen Blick darauf. Das kann heiter werden. Sie sind von Dr. Pirschke unterzeichnet, dessen Stelle Lissie übernehmen soll. Ich lotse Lissie in mein Büro.
Wo uns leider mein Chef schon erwartet. Ich stelle die beiden einander vor, ordere Kaffee. Mein Kopf rattert. Denn Lissie geriert sich in keinster Weise wie eine zum Vorstellungsgespräch bestellte Spitzenjuristin.
„Sie sind also diesem Pirschke vorgesetzt?“ fragt sie meinen Chef.
„Doktor Pirschke.“ kommt es unwirrsch zurück. „Seine direkte Vorgesetzte ist Ihre Fürsprecherin.“
Er deutet auf mich und Lissie grinst mir verschwörerisch zu. Ich versuche, ihren Kopf zu retten.
„Das mag jetzt aussehen, wie arrangiert.“ wende ich mich an meinen Chef. „Dr. Pirschke ist ein kleiner Lapsus unterlaufen, den meine Freundin durch einen Zufall bemerkt hat. Sie ist nun mal ein heller Kopf und die Sache lässt sich ohne weiteres ausbügeln.“
„Tun Sie das.“ merkt mein Chef genervt an und bittet Lissie um ihre Papiere. Desaster, nehme deinen Lauf! Sie zückt natürlich den Bescheid der türkischen Omi.
„Sehen Sie,“ breitet sie den mit feinsten Fettflecken vom letzten Börek verzierten Bogen aus, „da legen diese Leute Widerspruch gegen die Kürzung ein und werden von diesem Pirschke mit so einem dämlichen Gummiparagraphen abgebügelt? Das darf doch nicht wahr sein!“
Mein Chef muss heute seinen humorigen Tag haben. Er sieht Lissie interessiert an und wiederholt das Wort Gummiparagraph unter Hinzusetzung eines Fragezeichens.
„Interessante Fallstudie. Nicht schlecht für unser Gespräch.“ lächelt er mir müde zu und sieht dann wieder Lissie an. „Welche Paragraphen würden Sie denn vorschlagen?“
Mir ist schlagartig klar, dass Lissie nicht zu helfen ist. Bereits bei dem Wort Fallstudie setzt sie ihre Kaffeetasse mit solchem Schwung auf die Untertasse, dass mir die Ohren scheppern wie in einem Bus voller Schulkinder. Sie ist ein heller Kopf und hat kapiert, worum es hier geht.
„Helga, ich danke dir!“ strahlt sie mich an. „Der Job, den du mir gerade vermittelt hast, wird mir zwar keine Kohle einbringen, aber richtig viel Spaß machen. Busfahrerin Lissie gegen die Rechtsabteilung vom Sozi. Ha, das wollen wir doch mal sehen!“
Bis mein Chef aufsteht und grußlos den Raum verlässt, hat sie ihm auseinandergesetzt, dass sein Gummiparagraph so viel wert ist wie ein abgelaufener Fahrschein.
„Dafür hast du Jura studiert?“
Ihre Frage kommt mir irgendwie bekannt vor und sie setzt noch eins drauf.
„Jede Putze macht ehrlichere Arbeit.“
Ich frage sie, ob Busfahren etwa besser ist. Sie lächelt.
„Schon als kleines Mädchen träumte ich von großen Bussen. Vor drei Jahren wurde mir klar, dass man sich Träume erfüllen muss. Die tun das nicht von selbst und erst recht in keiner Kanzlei. Jura habe ich bloß studiert, weil ich die Welt besser machen wollte. Weißt du was? Auf dem Bus kann ich das. Aber hier ginge ich ein wie eine Primel.“
Als sie endlich gegangen ist, weist mein Chef mich an, den türkischen Widerspruch zuzulassen und über diesen Tag nie wieder ein Wort zu verlieren. Skandale kann er sich nicht leisten, nicht mal den, mich abzumahnen – wovon er nach dieser Vorstellung gewiss geträumt hat.
Ich muss noch eine Woche lang den Bus nehmen, da die Reparatur meiner Limousine sich hinzieht. Auf Lissie treffe ich nicht, schließlich kenne ich ihren Dienstplan. Dafür aber auf den kleinen Migranten-Clown. Er sorgt dafür, dass seine ganze Gang für mich aufsteht. Dass sie mir nicht noch ihre Jacken wie einen Teppich ausrollen, ist alles.
„Ey, Alter, ey, das is’ die Olle, die meiner Omma den Arsch gerettet hat!“
Astrid Petermeier, 2011