In diesem Nahverkehrsnetz war ich noch nie unterwegs, aber glücklicherweise sind die Anforderungen an die Benutzer solcher Einrichtungen überall ähnlich.
Ich komme also klar mit dem Automaten. Auf der Liste das Fahrtziel heraussuchen, den angegebenen Zahlencode dafür in die Tastatur geben, Geld einwerfen und das Ticket entnehmen.
Die Linie 36 bis solle ich nehmen, an der Haltestelle Lahnstraße aussteigen und dann seien es nur noch fünf Minuten Fußweg bis zu diesem Bürohaus, wo der Neurologe, mit dem ich verabredet bin, seine Praxis betreibt.
Die Busfahrt würde einige Zeit dauern, soviel weiß ich. Ich nehme also Platz, entspanne mich und schaue aus dem Fenster. Draußen gibt es nichts, was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht und im Bus selbst ist an diesem späten Vormittag wenig Betrieb. Mich überkommt eine angenehme Schwere und ich merke, wie ich langsam wegdämmere.
Ich liebe diesen Zustand auf der Grenze, noch nicht Schlaf aber schon nicht mehr wach. Leider kann man ihn nicht festhalten, denn sobald man es versucht, ist man wieder wach. Es geht also eher darum, zwischen beiden Zuständen hin und her zu pendeln. Ich erlebe dabei immer ein Gefühl von tiefem inneren Frieden. Ein kurzes Vergnügen allerdings, denn entweder schlafe ich doch irgendwann endgültig ein, oder ich gleite wieder zurück in den Wachzustand.
Wie jetzt gerade, ich bin wieder wach und kann nicht sagen, wie lange mein Dämmerzustand angehalten hat. Auch nicht, ob ich tatsächlich geschlafen habe. Eine Armbanduhr besitze ich nicht und da mir die Fahrstrecke des Busses unbekannt ist, kann ich auch aus den nächsten Stationen keine Schlüsse ziehen.
Ich öffne meine Tasche, um auf meinem Mobiltelefon nach der Uhrzeit zu schauen. Leider vergessen! Und nicht nur das: auch mein Timer befindet sich nicht in der Tasche. Das könnte unangenehm werden. Da ich ziemlich vergesslich bin, habe ich mir angewöhnt, Namen, Adressen und Termine immer zu notieren. Nur, seit ich mich auf diese Art rückversichere, gebe ich mir auch keine Mühe mehr, solche Dinge im Kopf zu behalten.
Je länger ich über meine momentane Situation nachdenke, desto unwohler wird mir. Ich habe das Zeitgefühl verloren, weiß weder wirklich,wo ich bin noch wo ich eigentlich hin will.
Ich sortiere meine Gedanken und versuche mich zu beruhigen: ich kann den Fahrer oder jemand anderen nach der Uhrzeit und nach der Haltestelle Lahnstraße fragen. Aber, wie war doch gleich die Adresse des Arztes und wie hieß der Mann eigentlich?
Das sind Momente, in denen ich mit mir hadere und meine Bequemlichkeit verfluche. Dennoch stehe ich auf, spreche einen jungen Mann an und erfahre, dass es kurz vor halb Zwölf ist. Ich bin also schon gut 30 Minuten unterwegs.
Die Haltestelle Lahnstraße kennt er nicht. Aber er ist freundlich und zeigt mir im Bus eine Netzstreckenkarte, die zwischen Decke und Wand angebracht ist. Ganz oben rechts finden wir die gesuchte Haltestelle.
Ich studiere die Karte genauer und komme schon wieder in‘s Schwimmen: Mein Ziel befindet sich ganz rechts außen. Im Zentrum des Streckenplanes, am Verkehrsknotenpunkt, befindet sich die Station Hauptbahnhof. Das heißt, ich bewege mich aus Richtung Südwest nach Nordost. Kurz hinter meinem Fahrtziel, so sagt die Karte, beginnt das Streckennetz Köln–Bonn. Darüber, in welchem Streckennetz ich mich gerade befinde, gibt mir die Karte leider keine Auskunft. Über der Stelle, die diese Information vermutlich trägt, klebt dummerweise ein Aufkleber einer Ultra-Fangruppe eines Fußballvereins aus dem Ruhrgebiet.
Ich bilde mir ein, mich in dieser Gegend der Republik einigermaßen auszukennen, aber eine große Stadt südwestlich von Bonn, die in circa 45 Minuten Fahrtzeit zu erreichen ist und einen Hauptbahnhof als Zentrum eines Nahverkehrsnetzes besitzt, kenne ich nicht und ich bin mir sicher, es gibt sie auch nicht.
So, – ich weiß inzwischen zwar wieder was die Uhr schlägt, aber was nützt mir das, wenn ich weder weiß, wo ich bin, noch, wo genau ich hin will. Das Schlimmste aber ist, dass ich inzwischen nicht mal mehr weiß, wo ich herkomme.
Die Gedanken in meinem Kopf beginnen hohl zu drehen, finden keinen Halt und keinen Boden. Sowas ist einfach nicht zu begreifen. Auf was ist denn hier eigentlich noch Verlass? Bevor die Panikchemie mein Hirn überschwemmt, kriege ich einen letzen klaren Gedanken zu fassen: Dieser unangenehmen Situation ist mit Logik nicht beizukommen. Und schon weht der nächste Gedanken vorbei:
Vielleicht doch? Wenn Logik hier keine Rolle spielt, muss es ein Traum sein. Ein Traum! Ich bin Teil eines Traums, ich träume!
Na bitte, das war der Weckruf!
So sehr mich der erste Moment meines Wachzustandes auch erleichtert, bin ich doch gleichermaßen verwirrt und überrascht, nicht im Bus aufzuwachen, sondern in meinem Bett, in meiner Wohnung, in meiner Stadt. Alles sollte also gut sein! Ist es aber nicht.
Nicht ganz, ich hatte in der letzten Zeit immer mal wieder das Gefühl von Orientierungslosigkeit und auch solche Träume sind mir inzwischen so vertraut, dass ich mich eigentlich besser ihn ihnen auskennen müsste. Einen Termin beim Neurologen sollte ich dann vielleicht doch mal machen.
Wo hatte ich doch gleich seine Nummer notiert?
Helmut Dreier, 2011