Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Claudia Dorka: Stille Nacht…

Jette Festvorbereitung Sound

GRASCHP.
Ihre Zähne beißen genüsslich in den rotgrünen Apfel. Der Saft läuft ihr rechts und links die Mundwinkel herab. Sie schmeckt das süßsaure Aroma, ihre Zähne zermalmen lustvoll das Apfelstück und ihre Augen leuchten vor Freude unter der roten Lockenmähne.
So schmeckt Winter.
Schon immer.
Weiße Flocken wehen ihr übers Gesicht, die Hände stecken in grünen, selbstgestrickten Stulpen und ihre zierliche Gestalt mummelt sich wohlig in das Fellfutter des Ledermantels. Mitten im Schneegestöber stehen; wohlig-warm und zufrieden; um sie herum Stille.; keine Menschenseele.
Ein perfekter Moment!

GRASCHP.
Stück für Stück beißt sie vom Apfel ab, zermalmt, schmeckt und spürt neugierig den zerkauten Stückchen nach, wie sie ihren Schlund breiig-kühl hinunterrutschen.
Ihr Gesicht ziert ein zartes Rot – vor Wangenkälte und Aufregung.
Ihre Augen schauen in die dunkle Weite vor ihr.
Ein Platz hoch oben über der Welt, umgeben von Tannen, geschützt, weit weg von allem und allen.
Schon als Kind hatte sie sich an Weihnachten gewünscht, an so einem friedlichen Platz zu sein.
Mit 50zig ist es endlich so weit.

Heute Morgen hatte sie aus dem Haus ihrer verstorbenen Mutter alles was mit Tannenbaum, Christkind, Weihnachten, Advent und dem Heiligen Abend zu tun hat, erst vom Dachboden hinunter und dann in den Kofferraum ihres Autos hinein geschuftet.
2 Stunden hatte es gedauert.
Danach fuhr sie durch die lärmige Stadt und ihren dreckig-matschigem Schnee mit Ziel Autobahn.
Aus dem CD-Spieler röhrte Thunderstruck von ACDC und sie wusste, pünktlich zum letzten Gitarrenakkord von Angus bei TNT wäre sie am Ziel ihres Weihnachtstraumes.
Also Fuß auf’s Gas, alle Regler nach rechts und ab in die Freiheit!

2 Stunden später stieg sie mit klirrenden ACDC-Ohren aus ihrem roten Alfa. Das Quietschen des Schnees unter ihren Füßen drang in diesem Moment nicht durch. Erst langsam gewöhnten sich die Ohren an das akustische Nichts hier oben.
Und genau so hatte sie es haben wollen, diesen Wechsel der Extreme.
100 Meter vor ihr sah sie eine kleine Blockhütte, eine Lichtfunzel erhellte mehr schlecht als recht den Eingang. Sie war angekommen am Ort ihrer Kindheitswünsche.
Die Bilder im Internet hatten nicht getrogen, es war genauso klein, urig und menschenleer wie es angepriesen worden war.

Eine weitere Stunde schuftete sie Karton um Karton aus dem Kofferraum raus und in die Blockhütte rein. Dort stand, wie bestellt, in der Wohnküche rechts vom offenen Kamin eine mittelgroße grüne Tanne. Der ganze Raum duftete nach frischem Tannengrün. Nachdem alles in der Blockhütte war, entzündete sie das Feuer im Kamin, machte das große Licht aus und die kleinen Wandleuchten an. So wirkte das Ganze doch schon ziemlich beschaulich. Sie nahm einen Apfel aus ihrem Rucksack heraus, zog sich den Fellmantel und die Stulpen an, trat auf die Veranda hinaus, ließ sich umflocken und biss genüsslich in den Apfel.

GRASCHP.
Außer dem Rauschen des Windes, sind ihre GRASCHPs eine Apfellänge lang das einzige Geräusch.
Eine kleine Weile hört sie hinein in die verbleibende Stille danach.
Plötzlich turnen Vater, Mutter, Kind, gedresst bis an die Haarspitzen, gestresst bis ins Mark, in grotesken Einzel-Szenen vor ihrem inneren Auge.
HEILIGABEND.
Ein DRAMA in unendlichen Akten!
Sie schüttelt entschieden den Kopf, ihre roten Locken hüpfen energisch Auf und Ab.

STOOOOPP! schreit es durch den dunklen Abend.
Erschreckt von ihrem gequälten Schrei, flüchtet sie sich ins Innere der Hütte.
Wohlige Wärme umfängt sie, trocknet den Angstschweiß des Stopps.
Sie seufzt.
So lange schon verfolgen sie diese Bilder.
Nutzt nichts!
Ärmel hoch und hinein in ihren ganz besonderen Heiligen Abend.

Mantel aus, nasse Schuhe aus, dicker Pullis aus.
Sie fummelt ihre Thermoskanne aus dem Rucksack und schenkt sich Kaffee ein.
Stark. Heiß. Schwarz.
Jetzt kann es losgehen.
Mit Verve geht sie ans Auspacken.

Zuallererst kommt die Krippenkiste dran. Der Karton ist schon ziemlich abgegrabbelt. Obenauf liegt ein mit rotem Wachs verklebtes grobes Leinentuch, beige mit Roter-Sternen-Bordüre. Die kommt hübsch drapiert direkt unter den Weihnachtsbaum. Ihr folgen die Krippe;Holz, braun, groß. Und die Krippenfiguren: Maria, Josef, Kind in der Krippe, Esel, 3 Könige aus schönem Lindenholz. Gut fassen sie sich an. Sie geht einen Schritt zurück, betrachtet die Szenerie, verteilt getrocknetes Moos aus der Kiste um die Krippe; rückt Josef mehr hier-, Maria mehr dorthin, schubst den Jesus in der Krippe zwischen beide, gleicher Abstand, fertig.

Jetzt kommt der Baum dran, rote und goldene matt-glänzende Christbaumkugeln plus Messingkerzenhalter. Die werden geklippt und waren schon immer störrisch. Sind sie zu weit vorne an den Ästen, machen die schlapp und das ganze Wachs verteilt sich unter den Baum und dann gab es ordentlich was auf die Zwölf.
Erneutes energisches Lockenschütteln.
Erinnerungen raus aus dem Kopf.
Das hier ist mein ganz eigener Film, denkt sie laut.
Und macht tapfer weiter.
Rote Christbaumkerzen in die Halter.
Schlicht, schön, fertig.

Auf die Fensterbank die Pyramide aus dem Erzgebirge mit Kerzen und Kapelle. Auf den Kaminsims die fetten Musikengel, ebenfalls Erzgebirge. Pauke, Posaune, Akkordeon, Flöte, Fagott, weiß der Himmel, was deren Repertoire hätten sein sollen, alle grüne Flügel mit weißen Punkten, alle in keinem guten Allgemeinzustand.
Zu viele Kinderhände.

Sie taucht noch tiefer in den Karton, es klirrt und klingelt. Vorsichtig schiebt sie das Zeitungspapier weg.
Das Ding hatte sie ja komplett vergessen!
Noch eine Pyramide, diesmal aus Metall. Wenn da die Kerzen angemacht werden und sie sich zu drehen beginnt, scheppert das ohrverletzend scheußlich.
Her damit.
Wie gut, eine Fensterbank ist noch leer, drauf damit und rote Kerzen in die Halterungen.
Was noch?
Igitt!
Stimmt. Fette Weihnachtsmänner, selbstgemacht, selbst bemalt, hinauf mit euch auf die Regale.
Nein, sie hatte die nicht verbrochen.
Ha!
Und hier: noch mehr Engel. Diesmal aus Ton mit weißem Kleid und schon wieder Pausbacken. Die halten jetzt die Kerzen allerdings vor ihren Körper, sollen ja auch heilig aussehen.
Auf den Tisch damit.

Jetzt noch das Tannengrün verteilen.
Hier und dort und da!
Mit elegantem Schwung wirft sie – die heiligen, weil selbstgemachten – Strohsterne unheilig ins Tannengrün.
Wunderbar!!!

Und jetzt kommt die Krönung von allem!
Auf dem Grund dieser Kiste liegt ES. ES großgeschrieben.
Ihr absolutes persönliches Hassprogramm aus Vinyl:
Festliche Weihnacht mit Ivan Rebroff und den Regensburger Domspatzen.
Jedes Weihnachten, wirklich jedes Weihnachten musste die aufgelegt werden.

Nach den ganzen Schreiereien und Tobereien a la Vater: ich hasse Dein Scheiß-Weihnachten und a la Mutter: wie kannst du mir diesen Tag verderben, darauf wieder Vater: Weihnachten ist total verlogen, dann Mutter: Du liebst mich nicht, dann Vater: jedes Jahr dieselbe Scheiße, dann Mutter schluchzend: wieso kannst Du nicht ein einziges Mal etc. etc. etc..

Also nach wirklich stundenlang ausgeteilten Gemeinheiten, währenddessen der Baum gestellt und geschmückt wurde – was selbstverständlich von weiteren vielfältigen verbalen Widerwärtigkeiten begleitet war – nach alldem kam der denkwürdige Moment wo Mutter mit toupiertem Kopf tief einatmete und alle anstrahlte und verkündete: „so jetzt haben wir uns alle wieder lieb, jetzt geht es an den Tisch und damit wir uns alle wieder beruhigen, hören wir dazu ein bisschen Musik“.
In die hasserfüllte Stille brummte Jahr um Jahr Ivan der Schreckliche „Stille Nacht“ und die Domspatzen fielen flötend ein „Stille Nacht“.
Kotzschlecht wurde es einem dabei.

Ihr Arm zittert und bewegt sich in Richtung Plattenteller.
Nein, verdammt, so weit ist sie noch nicht!
Ivan Du kommst später dran.
Jetzt erst noch die Elektrik legen.
Sie kriecht durch den Raum, verteilt Kabel, legt Kästchen, zieht Strippen, sucht und findet Steckdosen und zirkelt alles genau nach Plan durch die Hütte.
Nach einer Weile erhebt sie sich schnaufend und betrachtet ihr Werk.
Klasse!
Jetzt noch alle Kerzen an.
Dann alle Lichter aus.
Die Platte schonmal auf den Plattenspieler legen, Plattenarm hoch in die Parkposition, der Teller dreht sich, bereit für Ivan den Schrecklichen.
Vorher aber noch die Kartons in den Nebenraum schieben.
Es soll ja alles ordentlich aussehen.
Jetzt noch die Thermoskanne in den Rucksack, Schuhe an, Stulpen an, Mantel an, Beleuchtung aus.

Jawohl!
Der Kamin flackert, die Kerzen geben ein ruhiges Licht, das Tannengrün duftet.
So Ivan, jetzt noch Du.
Entschiedenen Schrittes geht sie zum Plattenspieler, atmet tief ein und aus und legt langsam und vorsichtig die Nadel auf die Platte.

Erbarmen, da war es wieder:

„Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft. Einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.“

Vor „Holder Knab’ im lockigten Haar“, war sie schon auf der Terrasse, hatte die Tür hinter sich zugezogen und schaute grinsend durch die Fenster: Sie blickte vorbei an Engeln und sich drehenden Pyramiden und betrachtete die Krippe, den geschmückten Baum und den sich drehenden Plattenteller.

Von hier aus sah das richtig klasse aus!

Ganz ruhig ging sie ein paar Schritte weiter weg.

Auch von hier sah das alles ziemlich prima aus.

Ein Idyll!

Gut gemacht!

Und jetzt?

Jetzt, nur noch diese Nummer hier tippen und einmal ein perfektes Weihnachten erleben.

Sie tippt.
Es knallt.

Kleine Engel fliegen durch die Luft, den Baum zerreißt es, die teuren Kugeln platzen, die Krippenfiguren fackeln ab und das Feuer tanzt heiter durch die Hütte.

Und als das Vinyl mit dem Plattenteller zu einer Einheit verschmilzt, kurz vor „Ros entsprungen“, röhren ihr Angus und Kollegen auf der Autobahn mit Hells Bells noch den Rest der Weihnachtserinnerungen aus der Kindheitskutte.

Claudia Dorka Dezember 2015

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