„Autsch. Oma, lass das!“
„Das war ein graues Haar.“
Im zarten Alter von Siebenundzwanzig erfuhr sie von ihrer Großmutter, welches Leid der widerfahren war: „Schlohweiß war ich mit Dreißig. Grauenhaft.“
Wenn sie die Oma ansah, hatte das Haare-Ausreißen sie der Lösung des Problems keineswegs näher gebracht. Was wir nicht verhindern können, begrüßen wir, frohlockte sie. Bald würde ihr Kopf dem von Sari gleichen, die auch erst Ende Zwanzig war: graumeliert, lockig – etwas ganz Besonderes. Wer hatte so etwas schon?
Na, ihr Vater, dem die grauen Haare jedoch ebenso schnell ausfielen wie die dunklen. Als er Mitte Vierzig war, umkränzten wilde weiße Locken seinen Fliegenlandeplatz. Und ihre Großmutter, versteht sich. Andere erbten Millionen, Immobilien, Kunstsammlungen, sie das frühe Grau.
Sie wurde Dreißig und sah aus, als sei sie unter einem Mehlsieb hergelaufen. Einjeder kommentierte: wie interessant ihre Haare doch wirkten. Einjeder konnte ihr die Freude daran verderben. Beizeiten konnte sie es nicht mehr hören, doch es gab niemanden, der zum Thema Haarfarbe schweigen konnte. Gab es an ihr nichts anderes, das interessant war?
„Früher fand man dich sexy, jetzt bist du interessant.“ lautete der Spruch der Freundin, der sie mit Dreißigeinhalb schließlich zum Farbtopf greifen ließ. Und siehe da: ihre Worte, ihre Lebensart wurden wieder zum Ziel des Interesses. Derweil die Haare mal rot, mal braun, mal schwarz waren und sie sich fragte, ob sie die Ursprungsfarbe überhaupt noch kannte.
Mit Fünfzig lasse ich das rauswachsen. Schwor sie sich, als das Färben längst zur Notwendigkeit geworden war. Der Stinktierstreifen wurde über die Jahre heller und auffälliger. Was die Häufigkeit der Farborgien erhöhte und sie zur Spezialistin in Sachen Kachelreinigung von Badezimmern machte. Welch‘ Glück, dass sie den Friseur mit den bezahlbaren Preisen fand. Als sie auf die Fünfzig zuging, hatte man dank der monatlichen Besuche ein so vertrautes Verhältnis, dass er ihr dringend vom Rauswachsen-Lassen abriet.
„Du wirst auf einen Schlag zehn Jahre älter aussehen.“
Damit beglückt man gerade mal Vierzehnjährige. Sie verschob es auf mit-sechzig, denn sein Preis für das Färben war so gering, dass sie niedrige Beweggründe für den Rat ausschloss. Sie stellte sich einen viktorianischen Dutt in Grau vor und trug Sorge, dass ihre Haare lang genug waren, als sie den 60. Geburtstag feierte. Pünktlich schritt sie zur Tat oder auch nicht: ließ das Färben aus und fuhr in den sonnigen Süden. Gnade, unter heftiger Sonnenbestrahlung oxidierte die Restfarbe im Haar gen Grün mit breitem weiß leuchtendem Mittelstreifen. Da half nur der gute alte Lesben-Spar-Schnitt aus den Siebzigern.
Als die Locken wieder gewachsen waren, verzichtete sie auf das Viktorianische, denn es hätte ähnlich viel Arbeit wie das Färben bedeutet – allerdings täglich. Haar-Kommentare gab es nur anfangs.
„Das steht dir aber gut!“ „ Wie mutig!“
Sie freute sich darüber, endlich mal für das Nichtstun gelobt zu werden. Das Wort interessant hingegen blieb ihren Erfahrungen vorbehalten:
Auf einmal fragten Menschen sie nach dem Weg. Das war ihr noch nie passiert! Weil sie meist gedankenverloren durch die Welt schratete, war bislang niemand auf die Idee gekommen, eine solche Frage an sie zu richten. Ließen graue Haare erhöhte Ortskenntnis erwarten?
Häufiger passierte es, dass sie vergaß, ihren Fahrschein zu stempeln. Weil sie auf den wenigen Metern vom Fahrscheinautomaten bis zum Stempelgerät schon wieder ganz in Gedanken war. Und prompt hatte ein Kontrolletti aus der U-Dreißig-Fraktion sie am Wickel. Sie sah verwirrt zu ihm auf, erklärte den Fall mit der Vergesslichkeit und fragte unschuldig, ob sie den Fahrschein an der nächsten Station entwerten dürfe. Sein freundliches „aber gewiss doch“ erschütterte und erleichterte sie gleichermaßen. Auch so etwas hatte sie noch nie erlebt. Als er nachlegte, dass sie den Fahrschein an ihrer Aussteige-Haltestelle stempeln könne, damit sie die U-Bahn-Treppen nicht hoch- und runter rennen müsse, hatte sie Mühe, nicht laut los zu prusten. Grau-werden-und-sparen war ein Motto, das einen anderen Sinn ergeben hatte, als sie noch Geld für das Färben berappte.
„Das kann ich mir nicht leisten.“ antwortete sie einem Verkäufer, der ihr unbedingt maßlos überteuertes Parfüm andrehen wollte. Normalerweise wird man daraufhin bestenfalls ignoriert. Dieser Verkäufer aber hatte endlich einen Grund gefunden, seine Ansichten zur Rentenpolitik zum Besten zu geben und sie mitfühlend zu fragen, wie viele Jahre sie denn gearbeitet habe. Musste sie grau werden, um jemanden mit einer Kauf-Absage zu einem Gespräch zu animieren? Wieder eine neue Erfahrung.
„Andere“, antwortete sie ihm, „erben Millionen oder Kunstsammlungen oder Immobilien. Ich habe mein Erbe lange Jahre ignoriert und merke erst jetzt, wie reich ich von Vater und Großmutter beschenkt worden bin.“