Ich sollte meinen Film mit einer Danksagung an den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr beginnen. Gäbe es in deren S-Bahnen Toiletten, wäre er mir nie begegnet. Es gibt aber keine und meine Blase drückt bereits seit Duisburg. Es ist Nacht und ich verzichte auf die Bekanntschaft mit einem Bahnhofsklo, auf dreißig Minuten Wartezeit bis zur nächsten Bahn. Ich halte durch bis Dortmund. Mal metere ich im Sturmschritt, mal stehe ich mit umeinandergewickelten Beinen an einer Laterne und wünsche mir, ein Hund zu sein. Nur noch 800 Meter bis zum Thron der Erleichterung. Ich stehe wieder und spüre, dass ich die nicht mehr schaffen werde.
Da ist dichtes Gebüsch am Rande des Spielplatzes. Hinein!
Erst, als ich die Papiertaschentücher hervorkrame, werde ich vom weltschlechtesten Gewissen gepackt. Hier spielen Kinder! Das hätte dir auch früher einfallen können, meine Liebe. Himmel, eine übervolle Blase ist in der Lage, das ganze Hirn für sich einzunehmen. Mein Augenmerk ist auf umherschweifende Passanten gerichtet, als ich das Gebüsch verlasse. Autsch! Passanten gibt es hier nachts überhaupt nicht, dafür aber einen dämlichen Koffer, über den ich stolpere. Geschieht dir recht, du alte Sau. Es sind nicht mal 800 Meter bis zu meiner Wohnung.
Ich erwache, weil mein Fuß tuckert. Vielleicht sollte ich einen Reiseführer über passable Bahnhofsklos im Ruhrgebiet schreiben. Was hat der blöde Koffer überhaupt in einem Gebüsch zu suchen? Gehört er nicht vielmehr an einen Bahnhof? Koffer sind etwas für Reisende. Ausgerechnet dieser aber macht mich immobil. Meine Güte, waren da etwa Steine drin? Mein blau-schwellender Fuß lässt mich sowas vermuten.
Ich werde neugierig. Bestimmt liegt er immer noch im Gebüsch meiner Schandtat. Soll ich etwa zum Spielplatz humpeln, den Koffer aus den Büschen zerren und nachsehen, ob Steine, Bücher oder Konservendosen darin sind? Wozu wäre das gut?
Ich höre meinen alten und sehr geschätzten Professor: befasse dich nicht mit dem, was dir sofort gefällt, sondern mit dem, woran du festhakst, was Widerwillen in dir auslöst.
Ein Reiseutensil, das mich in meiner Mobilität behindert, löst allerdings Widerwillen in mir aus. Hätte ich nicht eine Tüte mit Eis auf dem Fuß, würde ich den Koffer so, wie er ist, zum Bahnhof schleppen und vor dem Bahnhofsklo abstellen.
Quatsch. Ein herrenloser Koffer im Bahnhof löst einen Riesenalarm aus. Nur, weil ich keine Lust auf ihre Bekanntschaft hatte, muss ich keine Klofrau in Angst und Schrecken versetzen. Außerdem ist es nicht sehr originell, Ich enthalte keine Bombe darauf zu schreiben. Ein Kunstwerk dieser Art hat Robert Kunic bereits geschaffen und ausgestellt (IT’S NOT A BOMB).
Mir muss schon etwas Besseres einfallen, wenn ich aus meinem Objekt des Widerwillens etwas machen will. Denn dazu fühle ich mich jetzt berufen. Sozusagen als künstlerischer Ausgleich dafür, dass ich ausgerechnet in die Büsche eines Kinderspielplatzes schiffen musste.
Gnade! Da werde ich wohl nicht die Erste gewesen sein. Wer weiß, wie viele Stehpisser meinen armen Koffer bereits berieselt haben. Iiih! Mein Ausgleich für schlechtes Benehmen könnte zu einem regelrechten Bußgang werden – wenn ich denn irgendwann wieder gehen kann. Vielleicht ist er dann gar nicht mehr da…
Die Zeit, die mein Fuß damit verbringt, von dickem Blaulila auf betretbares Schmieriggelb zu schrumpfen, nutze ich, um mein persönliches Verhältnis zu Koffern zu klären. In meiner Jugend reiste ich mit einem roten Rucksack, unter den ich ein Zelt und auf den ich meinen Schlafsack schnallen konnte. Bei einer meiner Heimreisen brach er zusammen. Eine dreimonatige Tour durch Süditalien bewältigte ich mit einer knallgrünen Leinenreisetasche, die ich am Ende samt Inhalt in Florenz entsorgte. Ich hatte mir dort ein Kleid gekauft und wollte die zwei Monturen, die ich von Foggia bis Otranto oft genug gewaschen und gewechselt hatte, nie wiedersehen. Nach New York flog ich mit schwerem Gepäck: Wintersachen und Bücher für den dort lebenden Freund, sogar ein von seiner Mutter gebackener Kuchen passten in seinen alten Koffer. Die Rückreise konnte ich mit meinem Kulturbeutel antreten.
Wenn ich an Raffael Rheinsbergs Kofferwand denke, muss ich mich doch fragen, was meine Kofferlosigkeit über mich aussagt. Eine, die vollbeladen loszieht und mit leeren Händen zurückkehrt.
Seine Installation KOFFERMAUER – KLAGEMAUER löst in mir immer noch ganze Sturzbäche von Vorstellungen aus. Ich sage nur: Flucht oder Reise, Habseligkeiten oder Mitbringsel, hatten die Besitzer ihre alten Koffer satt oder waren sie alles, was von ihnen blieb?
Eins ist mal klar: mit den Geschichten, die der Anblick eines oder vieler Koffer in den Köpfen des Kunstpublikums provoziert, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Man gebe nur Koffer und Kunst in eine Suchmaschine ein und entdecke, dass der Koffer im 20. Jahrhundert zum Topos für Künstler wurde. Die Frage ist, ob ich dem noch etwas hinzuzufügen habe – als Frau ohne Koffer!
Soll ich ihn einfach zu meinem machen, damit ich wieder mobil werde?
Die Zeit ist gekommen, ihn zu mir nach Hause zu holen. Ich ziehe mir sogar Arbeitshandschuhe an, weil er wahrscheinlich bepisst und auf jeden Fall schwer ist. Wahrhaftig, er ist noch da!
Kaum habe ich den Koffer aus dem Gebüsch bugsiert und durch den Sandkasten geschleppt, überrascht er mich. Auf glattem, abschüssigen Untergrund rollt er frechweg los.
Ich muss an Peter aus Berlin denken, als ich ihn hinter mir herziehe. Peter wohnt neben einem Hotel und verflucht die Erfindung der Rollkoffer, die ihm nachts den Schlaf rauben.
„Pssst“, mache ich zu meinem Koffer und hebe ihn in den kopfsteingepflasterten Einfahrten an. Er lacht sich eins und erinnert mich an Susan, eine Amerikanerin, die sich rollenden R’s an deutschen Idiomen versuchte: „du bist wohl krank in die Koffer.“
Ich taufe meinen Koffer also Susan und kann ihr nur Recht geben: Man muss krank im Kopf sein, wenn man mit Koffern spricht.
Bei Licht besehen erweist sich Susan als dreckige, doch stilbewusste Schönheit mit festem Rahmen, ledergeschützten Ecken und bedrucktem Seitenstoff, der sich beult. Insbesondere diesem Stoff haben die Nächte im Gebüsch nicht gut getan. Nach der Reinigung betrachte ich das Muster: außer Verschlingungen in Grün und Schwarz stellt es nichts dar, was mir künstlerisch sehr zupass kommt. Ich entdecke eine Lasche, die mitsamt Druckknopf ein Namensschild verbirgt. Bevor ich den Druckknopf öffne, stelle ich mir vor, wie mich das Schild zum Besitzer des Koffers und einer lebenslangen Freundschaft führt. Moment, halt, stopp! Ich hebe Susan nochmals an. Sie wiegt mehr als zwanzig Kilo, das zulässige Fluggewicht. Ich drücke ihre Beulen. Weiches Polster scheint Hartes zu umhüllen und das fühlt sich nicht unförmig wie eine Skulptur an. Was, wenn da nun Drogen oder Schwarzgeld drin sind und der Kofferbesitzer mich bei Übergabe zur Sicherheit mal erschießt? Freundschaft bis zum Ende meines kurzen Lebens, ha-ha.
Da ich wenigstens wissen will, wofür ich sterben soll, unternehme ich einen halbherzigen Versuch der Öffnung. Und siehe da: Susan verweigert sich. Ihre Schlösser sind mit einem Zahlencode gesichert. Fein, da kann ich mich wieder an den Druckknopf machen und mal sehen, wohin der Koffer mich führen könnte. Eine Schrift wie die auf dem Namensschild ist mir noch nie begegnet. Genau genommen, kann ich gerade mal unsere, die hebräische und die arabische unterscheiden. Dieses Schriftbild jedoch sagt mir nichts.
Susan will wenig von sich preisgeben, mein Fuß tuckert wieder und ich beschließe, mich der Sache morgen mit frischem Mut anzunehmen.
Einfach behalten kann ich den Koffer nicht. Jemand hat seinen Namen darauf geschrieben und das würde mir jedes Mal, wenn ich ihn benutze, in den Sinn kommen. Zum Fundbüro bringen und erleben, wie Susan in ein paar Monaten versteigert wird? Wobei ich selbstredend überboten würde oder, noch blöder: eben nicht überboten würde… Da kann ich das Problem auch gleich in Angriff nehmen. Wenn ich mich vor ein paar Tagen berufen fühlte, mein schlechtes Benehmen künstlerisch wieder gutzumachen, ist mir nach meiner ersten Nacht mit Susan erst recht danach.
Ja, sie hat Persönlichkeit gewonnen, diese Kofferdame. Nicht nur durch ihren Namen. In dem Moment, da ich in die Spielplatzbüsche pinkelte, begann Susans zweites Leben. Bestehend aus einer Ausreißerjugend, aus Erinnerungen an meine eigene Vagabundenzeit, aus einer Phase, in der sie sich mit anderen Kofferkunstwerken messen musste. Alle meine Gedanken und Ideen sind zur Biographie des Koffers Susan geworden.
Neugier hin, Innenleben her: so jemanden obduziert man doch nicht bei lebendigem Leibe!
Allerdings: Verschlossene Gegenstände, deren Öffnung das Kunstwerk zerstörten, kennen wir auch schon zur Genüge. Da gibt es einen Karton von Ben Vautier und – igittundbaba – Piero Manzonis Konservendose mit KÜNSTLERSCHEISSE, deren Inhalt nicht mal ihre Käufer zu kontrollieren wagten, obwohl sie sie mit dem Goldpreis bezahlten.
Ach, Susan, wie soll ich aus dir nur Kunst machen?
Du bist mir ja schon wie ein Kind ans Herz gewachsen.
Da! Ha!
Das ist es!
Ein Kind muss man gehen, erwachsen werden lassen. Ich werde diesen Weg mit einer Filmdokumentation begleiten. Au fein, ich mache einen Film für Kinder!
Susan wird auf den Spielplatz zurückkehren. Nicht ins Gebüsch, dort werde ich mich mit der Kamera postieren. Bestimmt werden die kleinen Wilden erstmal auf ihr herumtoben. Soll ich sie aus dem Off „Autsch, aua, ihr tut mir weh“ heulen lassen? Ich kann den Leuten, die diesen wundersamen Koffer betrachten, die sich im Weitergehen noch mal danach umsehen, schließlich nicht in den Kopf gucken. Aber ich kann Susan sprechen lassen: „Glotz‘ nicht so! Du kommst sowieso nicht dahinter, woher ich komme und warum ich hier rumliege.“ Bestimmt wird es Mütter geben, die ihre lieben Kleinen vom Koffer zurückpfeifen. Mit denen kann Susan in einen Dialog treten.
Mutter: „Lara, kommst du wohl sofort von dem Drecksding da weg!“
Susan: „Drecksding? Ich höre wohl nicht richtig. Wie wäre es, wenn Sie Ihre klebrige Rotzgöre mal in die Wanne stecken?“
Na, ich werde ja sehen, was passiert. Nur eines, eines ist klar: sobald irgendwer den Koffer öffnet, gibt es eine feine Abblende in die rätselhaften Verschlingungen seines Stoffes.
Es ist ein Kurzfilm geworden, kürzer, als jede Abspann-Danksagung an den VRR hätte sein können.
Kaum steht mein Koffer namens Susan auf dem Spielplatz, kommt ein Mann direkt darauf zu. Ich flehe den Himmel an, ihn nicht helllichten Tages zum Pinkeln ins Gebüsch zu schicken und werde erhört. Er schenkt Susan gerade mal einen Viertelblick, packt sie sicheren Griffes und verschwindet.
Hat der denn gar keinen Anstand?
Astrid Petermeier, September 2015