Zu Hause angekommen stellte Herma gut gelaunt und in Vorfreude ihre Tasche auf dem Küchentisch ab. Das war wirklich eine nette Idee ihrer kleinen Nichte, die gestern den ganzen Tag mit ihrer Mutter in der Küche gestanden hat, um Latwerge einzukochen.
Heute Nachmittag bei ihrem Besuch bekam Herma ein Glas davon geschenkt. Das wollte sie nun gleich öffnen und eine Scheibe Brot damit bestreichen. Natürlich nicht, ohne vorher eine dünne Schicht Butter darauf zu verteilen.
Das war das einfache Rezept einer kulinarischen Köstlichkeit. So jedenfalls hatte Herma das in Erinnerung. Sauerteigbrot, am besten Roggen, dünn Butter, Latwerge – lieber etwas mehr als zu wenig.
Ob die Original-Latwerge nun aus Pflaumen oder aus Zwetschgen gemacht werden sollte, war Herma eigentlich egal. Nur lange genug gekocht musste es sein, fest und dick. Es durfte, wenn man es mit dem Messer aus dem Glas holte, keinesfalls herunter tropfen. Es musste daran kleben bleiben und sich dann mit leichtem Druck auf dem Brot verstreichen lassen.
Der Geschmack hatte süß und sauer zugleich zu sein, ohne dass eine der beiden Empfindungen überwiegen durfte. Und dann der Duft der Gewürze: Zimt, Sternanis und, ganz dezent, eine Spur Pfeffer.
Hermas Speichelproduktion lief bereits an. Es schien ewige Zeiten her zu sein, dass sie ein Brot mit Latwerge gegessen hatte. Kindheitserinnerungen waren das. Früher war das ihr Lieblingspausenbrot für die Schule gewesen. Wenn die Mutter ihr das zum Frühstück einpackte, aß sie es meist schon in der Straßenbahn auf dem Weg zur Schule. In diesen Momenten konnte die Straßenbahn voll und dicht gedrängt mit Menschen gefüllt sein, die auch schon am frühen Morgen bereits nicht mehr alle gut rochen – zumal wenn es regnete, und sich die feuchte Luft im morgendlichen Gedränge erwärmte. In dem Moment aber, da Herma ihre Stulle auspackte, der Duft in ihre Nase stieg und sie mit Vorfreude den ersten Bissen nahm, die süße Säure und die Aromen ihren Mund– und Rachenraum ausfüllte, verschwand die Außenwelt. Ohren und Augen waren wie abgeschaltet. Herma war in diesen Momenten nur auf Geruchs- und Geschmackssinn konzentriert. Eine Konzentration wie sie möglicherweise geschulte Yogis in tiefer Kontemplation erleben. Aber davon wusste Herma damals nichts.
Auch jetzt suchte sie natürlich keine Versenkung, sondern die Wiederbelebung einer Erinnerung, verbunden mit einer kulinarischen Sensation.
Latwerge war eine Spezialität ihrer Mutter und Herma war sich sicher, dass ihre Schwester genau wusste, was sie zu tun hatte, um ein ähnlich exquisites Produkt herzustellen. Besonders angerührt war Herma von dem Gedanken, dass nun auch die kleine Tochter ihrer Schwester ebenfalls in dieses Familiengeheimnis eingeweiht wurde.
Herma spürte ein nostalgisch-schwärmerisches Gefühl in sich aufsteigen und merkte, wie ein Gedanken in ihrem Kopf Gestalt annahm: „Wer in der Lage ist sich ein Latwergebrot zu machen, hat eine Heimat“.
„Rührseliger Blödsinn“, dachte Herma und schob diesen Satz aus ihrem Bewusstsein. Jetzt waren handfeste Dinge gefragt. Sie holte sich ein Messer und ein Holzbrett aus der Schublade. Sie wollte nichts verkehrt machen, also musste ein Latwergebrot auf einem Holzbrett zubereitet werden.
Die Brotscheibe hatte mindestens anderthalb Zentimeter dick geschnitten zu sein. Dann die Butter drauf und dann das Mus.
Herma widerstand dem Impuls, sofort ins Brot zu beißen. Erst musste die Scheibe unter der Nase entlang geführt werden – einatmen, den Duft in allen seinen Details wahrnehmen. Der Speichelfluss setzte erneut, aber diesmal viel heftiger, ein. Sie tat den ersten Bissen, und ihr wurde warm. Im ganzen Körper und in der Seele. Sie kaute, und der Geschmack intensivierte sich. Sie zwang sich, langsam zu kauen und alles gut einzuspeicheln, denn jeder Bissen verändert seinen Geschmack beim Kauen, und sie wollte das ganze Erlebnis.
Dann der zweite Bissen, diesmal ohne Brotkruste. Ähnlich, aber mit völlig anderer Textur.
Seit langem hatte Herma nicht mehr mit so viel Achtsamkeit etwas gegessen. Sie nahm sich fest vor, in Zukunft nie mehr nebenbei oder ohne Aufmerksamkeit zu essen. Man verpasst wirklich was, dachte sie und bemerkte, dass schon dieser Gedanke sie von ihrer eigentlichen Betrachtung ablenkte. Also zurück zum Brot. Es schmeckte, und sie fühlte sich beinahe beglückt.
Aber je mehr sie sich auf Geschmacks- und Geruchssinn konzentrierte, umso sicherer wurde sie sich, dass dies nicht das identische Erlebnis war, das ihr die morgendlichen Latwergebrote in Straßenbahn bereitet hatten.
Irgendwas stimmte hier nicht. Herma legte das letzte Drittel ihrer Stulle zurück aufs Brett und versuchte, in ihrer nun offen liegenden Erinnerung nachzuspüren, was da fehlte. Zunge und Gaumen signalisierten Übereinstimmung von Erinnerung und Gegenwart. Es musste etwas mit den Aromen zu tun haben. Dass ihre Schwester das Rezept einfach so verändert haben könnte, hielt sie für ausgeschlossen. Sie war schließlich genauso überzeugt wie Herma, dass die Latwerge der Mutter das endgültige Ende und der Höhepunkt einer langen Tradition war, an der man nichts mehr verbessern konnte.
Herma nahm alle ihre Konzentration zusammen, die sie aufbringen konnte, und versuchte, die sensorischen Erinnerungen ihrer Kindheit so lebendig wie möglich zu rekonstruieren. Das war doch harte Arbeit, wie sie sich eigestehen musste. Punktgenaue Konzentration war gefragt, eine Meditation über ein längst gegessenes Musbrot.
Herma lächelte kurz in sich hinein, kehrte dann aber schnell zurück auf ihre Schulfahrt mit der Straßenbahn. Sie schloss ihre Augen – und dann fuhr ihr ein Blitz durch den Kopf! Da war es, das ganze Paket der Aromen von damals: der Pfeffer, der Anis, der Zimt! Sie meinte sogar, das Holz des Pflaumenbaumes zu riechen.
Unfug, natürlich verarbeitete ihre Mutter kein Holz oder Rinde in der Latwerge. Geldgierige Winzer mochten heutzutage Holzspäne in ihre Weintanks geben, um den Ausbau des Weines im Fass vorzutäuschen – aber ihre Mutter? Niemals!
Aber da war Holz, keine Frage, und Leder. Leder?
Herma schüttelte den Kopf, hielt aber die Augen geschlossen. Sie wollte diese Aromen auf keinen Fall verlieren und ihnen weiter nachgehen. Ja, ein leichter Geruch von Holz und, noch weiter entfernt, ein feiner Hauch von Leder. Gebrauchtes Leder, kaum wahrnehmbar, aber ein typischer Geruch, der sich immer dann verstärkt, wenn dieses Leder nass wird.
Das war’s! Die alte Straßenbahn selbst hatte ihre Zutaten zum Latwergebrot gegeben. Der Geruch von Holzbänken und Lederschlaufen hatte sich untrennbar mit den Aromen der Stulle vermischt.
Herma stand auf, schraubte das Glas mit dem Mus zu und stellte es in den Schrank. Das war’s wohl, endgültig verloren! Ein Latwergebrot in der U-Bahn mit dem Geruch von Plastiksitzschalen und Kunststoffhandläufen zu essen, wollte sie sich auf keinen Fall antun.
Sie hatte das Geheimnis des perfekten Latwergebrotes gefunden, aber es war nicht in die Gegenwart zu transportieren. Auch die heutige Generation von Schulkindern, da war sich Herma sicher, würde irgendetwas unwiederbringlich in der U-Bahn liegen lassen.
27. Dezember 2015 um 18:57 Uhr
… und ich hab keine latwersch zu haus! wunderbar deine geschichte, krabbe