Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Nordstadttagebuch 2020: It’s raining man – Quarantäne hatte ich mir anders vorgestellt

24. 3. 20
Heute habe ich in aller Frühe gelernt, wie Corona alte Träume erfüllt: war um halb 8 beim Aldi, wo Frau Dragoner hinter der Kasse thront. Mit auf mich ausgestrecktem Finger brüllt sie „SIE!!!“ Gnade, was habe ich getan? Olala, ich habe versucht, einer Regel zu folgen, die ich bislang als blödsinnig Regel befand: mein Einkaufskörbchen hinter das Laufband zurück zu stellen. Der nächste Kunde steht genau da, wo sonst die Körbchen hinkommen und fährt mindestens so erschreckt wie ich noch drei Meter zurück, als sie „ABSTAND HALTEN!!!“ nachsetzt. Erst als ich drei Tütchen Saft heimtrage, fällt mir ein, dass Frau Dragoner bestimmt mal General werden wollte. Da gönne ich ihr die späte Erfüllung des Traums.

30. 3. 2020
Ich komme gerade von meiner kleinen Einkaufsrunde (besser so früh wie möglich, wenn die Läden noch leer sind) und bin guter Dinge. Meine liebe Bäckerin hat meinen Roman gekauft. Im türkischen Supermarkt, den ich normalerweise meide, weil die so unfreundlich sind, wird brav Abstand gehalten. Körbchen sind mittlerweile out, ohne Wagen heißt es „wir müssen leider draußen bleiben.“ Wobei ich hier in der Nordstadt bemerke, dass in erster Linie Leute mit Mig.Hintergrund Masken tragen. Der Gemüsekurde an der Ecke, bei dem ich oft und gern inkl. eines Schwätzchens einkaufe, hat geschlossen. Weil er die vielen Roma, die bei ihm einkaufen, nicht zum Abstandhalten kriegt. Der Gute ist einfach zu lieb, denn bei Zafer und Yüksel kriegen sie das gebacken, bzw. lassen einfach nur eine Person rein. Herr R. aber hat nicht die Traute, das durchzusetzen und macht lieber für 2 Wochen dicht.

Es kommt mir so vor, als wären hier in der Nordstadt unsere Roma diejenigen, die es überhaupt nicht schnallen. Mehrmals am Tag müssen die Leute vom Ordnungsamt ihre Versammlungen auflösen, bei denen sie die Bierpullen rumgehen lassen. Ihre Kinder haben den Spielplatz für sich und nutzen das abstandslos und weidlich. Dass alle anderen einen großen Bogen um sie machen, sind sie sowieso gewöhnt, schließen daraus also auch nichts. Ich weiß nicht, ob sie einfach ignorant sind oder mangels Sprachkenntnis nix mitkriegen. Alle anderen Nationen haben es ja auch gerafft.

5. 4. 20
Mail an:
Schwesterherz, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sauer, nein: angepisst ich gerade bin. Da verbringe ich den Vormittag im Bad, um mich dem seltenen Thema „Reinigung der Kacheln und Waschbecken von unten“ zu widmen, was mich so richtig schön ins Nachdenken bringt. Darüber, in welchen Topf ich welche Pflanze auf meiner Terrasse setze, die ich nun endlich wieder nutzen kann, heissa! – da tut es einen heftigen Schlag.
Ich renne zur Terrasse, auf der ein Mann liegt. Er hechelt, krümmt sich gewaltig und ich sehe, dass er ein langes Kabel in der Hand hält, was auf das Flachdach führt. Er ist also von diesem Dach gestürzt, etwa 3 Meter tief. Es ist Sonntag Morgen, halb 11 und es kann nur einen Grund geben, auf dem Dach rumzuklettern: der Schüsselempfang für russisches Fernsehen muss gestern Abend unter aller Sau gewesen sein. Richtig, das Kabel ist ein Antennenkabel. Du weisst ja, was für eine beeindruckende Schüsselzucht in meinem Hinterhof wächst.

Da ich ahne, dass der Mann kein Deutsch spricht oder versteht, werde ich laut: „Liegenbleiben, nicht bewegen, ich rufe Krankenwagen“. Genau das tue ich, lande vor lauter Aufregung bei der Polizei statt Feuerwehr, was die Sache um entscheidende Minuten verlängert. Ich kehre mitsamt Telefon zur Terrasse zurück und sehe, dass er blutet wie ein Schwein, weil er nun die Maske vor dem Gesicht abgezogen hat. Ein gutes Zeichen, dass er dazu noch in der Lage ist? Noch während ich genau beschreibe, wo der Krankenwagen hin muss, richtet der Depp sich auf, entert meinen Terrassenstuhl und blutet den Tisch voll. Aus dem Gesicht, das schlimmer aussieht als jede Halloween-Schminke. Ich habe gerade aufgelegt, da hat er schon den ersten Schritt in meine Wohnung getan – den Boden zieren dicke Bluttropfen. Es ist ein älterer Typ und er versteht mich nicht. Befehlston aber funktioniert: „Raus! Auf der Terrasse bleiben, nicht bewegen, Krankenwagen kommt!“ Ich verschließe die Terrassentür und renne ums Haus, um das Hoftor für den Krankenwagen zu öffnen. Als ich zurückkehre, hat der Mann die Gelegenheit genutzt, eine Blutspur hinterlassend durch das Hoftor Richtung Eingang des Haupthauses zu wanken. Na, das wird die Feuerwehr entzücken. Ich habe nämlich keine Ahnung, wer er ist und in welcher Wohnung er wohnt. Bin aber sicher, dass er schwer verletzt ist und unter Schock steht.

Zackzack, schon sind sie da, mitsamt der Polizei. Das Ende des langen Kabels, das er in der Hand hielt, hängt noch auf meiner Terrasse. Ich schlage vor, dieses Kabel zu verfolgen, um rauszukriegen, wo der Verletzte geblieben ist. Mittlerweile hängen auch sämtliche russischen Nachbarinnen auf ihren Balkons: „Waaasiest passierrt?“ Meine Erklärung wird gleich übersetzt und telefonisch weitergereicht, sie verstehen mich also. Sie sehen zu, wie die Polizei auf dem Gerüst des Nachbarhauses rumklettert, um dem Kabel zu folgen. Ich frage die Nachbarinnen: „Wer wohnt dort, wo das Kabel endet?“ Nämlich auf einem Balkon in der 3. Etage. Prompt verstehen sie wieder kein Wort. Verdammt, eine von diesen Trullas muss den Idioten über ihren Balkon auf das Vordach gelassen haben. Genau die, deren Balkon der wahrscheinlichste ist, sagt jetzt zu mir: „Von däm Dach? Nix so schliem, nicht tief.“ Auch eine Art, sich das schlechte Gewissen wegzureden. Ich könnte sie würgen und brülle sie an: „Lassen Sie die Feuerwehr ins Haus“, woraufhin sie ganz fix verschwindet. Die Feuerwehrmänner und Polizisten sehen mich nur noch mitleidig an und rennen dann nach vorne, um einfach überall zu klingeln.
Als ich sehe, dass sie den Typen gefunden haben, auf eine Trage verfrachtet und in ihren Krankenwagen schieben, sehe ich mir meine Terrasse an: Mein großer, in langen Jahren gezüchteter Oleander musste reichlich Zweige lassen und ist voller Blut. Ebenso der Boden und der Tisch. Meine für den wilden Wein quer gespannten Drähte sind gerissen. Ich merke, dass in mir nicht Sorge oder Mitleid, sondern Wut aufsteigt. Denn es ging um nichts anderes als ein Kabel für eine TV-Schüssel. Wir haben zwar alle Kabel-TV, aber für russische Sender muss man extra zahlen. Das Scheiß-Kabel hängt jetzt bei mir rum und ich kriege es nicht allein auf das Dach zurückgeschmissen.
Stattdessen gieße ich endlos Wasser über die Blutlachen und massig Domestos hinterher. Das wird der Rest der Blumen nicht schätzen, aber was soll ich tun in Corona-Zeiten?
Ich frage mich, wie man überhaupt von diesem Dach fallen kann – es besteht zur Kabelverlegung keinerlei Notwendigkeit, an den Rand zu gehen. Mir fällt nur eine Lösung ein: Neugier – wie mag es bei der komischen Deutschen da unten aussehen? gepaart mit der russischen Liebe zum Wodka! Das macht mich am späten Vormittag noch viel saurer. Wie kann man eigentlich so bescheuert sein?
Als ich zur Mülltonne marschiere, um Blutzweige (habe ich alle gekappt, armer Oleander) und sogar meinen Reinigungsschrubber wegzuwerfen, spricht mich von einem Balkon eine „Türkin“ in bestem Deutsch an: sie habe den Typen schon eine halbe Stunde zuvor auf dem Dach rumwanken sehen und angewiesen, da runter zu gehen. Alles was ihm dazu einfiel, waren russische Unflätigkeiten und „Du Nazi!“ Da ist sie wieder in ihre Wohnung gegangen. „Diese Irren tragen die Masken, die in den Krankenhäusern fehlen.“ sagt sie noch zu mir und: ich soll bloß mit dem Blut aufpassen. Falls ich Domestos brauche, sie hätte noch welches. Brauche ich nicht, meine Flasche war zum Glück noch voll und sie wünscht mir einen ruhigen Restsonntag, „trotzdem.“ Ich bin froh, mit ihr gesprochen zu haben, ein bisschen Zuwendung tat gut auf den Schrecken.
Auf eines würde ich jetzt schon Wetten abschließen: ich werde nie wieder von diesem Idioten hören. Weder wird er kommen, um mir für den schnellen Krankenwagen zu danken, noch wird er fragen, ob bei mir was kaputt gegangen ist. Offen gestanden, bin ich auch nicht scharf darauf, ganz im Gegenteil.
Lange Zeit habe ich die Schüsselzucht in unserem Hof als Folklore betrachtet, doch im Moment macht sie mich einfach nur wütend. In unseren Mietverträgen gibt es sogar ein Schüsselverbot! Aber die versteht hier ja kaum jemand und Regeln interessieren diese ehemaligen Sowjetbürger auch nicht. Sie kappen den hübschen Blauregen, wenn der Empfang nicht stimmt und werden mit ihrem Scheiß-russisch-TV auch niemals Deutsch lernen. Nur zum „Du Nazi“-Geifern und AfD-Wählen reicht es. Wie komme ich jetzt bloß von meiner Wut wieder runter?
Ich habe meiner Mandevilla versprochen, dass sie heute aus ihrem Winterlager befreit wird und auf die Terrasse darf. Versprochen ist versprochen, doch ansonsten habe ich vorerst keine Lust mehr auf meine geliebte Terrasse.

6. 4. 20
Habe heute Nacht nicht von Blutfressen geträumt, wofür ich allen Schlafgöttinnen danke. Als allerdings der Hausmeister heute früh an meine Terrassentür klopft, schrecke ich auf wie eine Irre und habe eine Gänsehaut, die so schnell nicht weichen will. Der Hausmeister will nur wissen, was ICH mit dem Kabel vorhabe, das noch immer dort hängt. Zu dem Vorfall fällt ihm nicht mehr als Kopfschütteln ein. Rufe ich also bei der Verwaltung an, dort zeigt man sich immerhin völlig schockiert und weist Hausmeister an, den Balkon zu fotografieren, damit sie dem Typen den Marsch blasen können. Auf diesem Dach hat niemand was zu suchen und die Eule, die ihren Balkon zum beklettern frei gab, kriegt auch eine Abmahnung. Das wird meinen Beliebtheitsgrad bei den Nachbarinnen ungemein steigern, falls das überhaupt möglich ist.
Dafür habe ich ja nun meine türkische Freundin, bei der „Du Nazi“ mit 24 Stunden Verspätung gesackt ist. Jetzt sei sie wohl integriert, grinst sie. In Deutschland geboren zu sein, die Sprache perfekt zu beherrschen habe nie ausgereicht. Aber einen Suffski anschnauzen, das haut hin. Sie findet es übrigens gar nicht gut, dass ich den Idioten Karlsson vom Dach getauft habe – das hätte Astrid Lindgren nicht verdient. Wir haben uns dann auf Ivan-vom-Dach geeinigt.

8. 4. 20
Halleluja, ich habe alle Einkäufe geschafft! Vor Ostern sieht mich kein Laden mehr von innen. Gestern habe ich verpennt und war erst um 9.30 h im Aldi, keine gute Idee. Die Kassenschlange endete vor einem Regal, ist also kurz, und ich mache im Gang links daneben die Fortführung auf. Als wir vorrücken, hat sich im Gang rechts ebenfalls eine Fortführung gebildet. Die Dame an der Schlangengabelung erklärt, dass ich schon länger dort stehe, was allgemein akzeptiert wird. Nicht zur Allgemeinheit gehört allerdings ein Herr, der mit riesiger Brille und Hippiedress einen auf sehr intellektueller Schriftsteller machte. Die Schlange sei immer rechts und ich solle mich gefälligst hinten anstellen. In einem Befehlston, der eines Ludendorff würdig gewesen wäre und auf den ich in keiner Weise zucke. Der Mann vor ihm lässt mich grinsend zwischen sich und die Dame, woraufhin Herr Schriftsteller ausflippt und mich wüst beschimpft. Um halb 10 bin ich zur Gelassenheit noch nicht in der Lage, aber zu ruhigem Sprechen. Als der Typ nicht mehr aufhört, schlage ich ihm vor, sich auf den Boden zu werfen, zu strampeln und zu schreien. Das ist jetzt nicht mein bester Einfall, denn er besinnt sich des Dreckstalls, aus dem er gekrochen ist. „Krüppel, Schlampe, Miststück.“ Falls er der Schriftsteller ist, den er raushängen ließ, möchte ich seine Bücher nicht lesen müssen. Beim Einpacken hinter der Kasse gibt er sich sogar größte Mühe, mir auf die Pelle zu rücken, sodass ich es vorziehe, draußen beim Securitydienst einzupacken. Er kommt wieder hinterher, doch der Security-Jugendliche stellt sich sofort zwischen uns. „Ich warte auf dich, du Krüppel!“ Dass ich in keiner Weise eilig bin, macht ihn so irre, dass er einen Platzverweis kassiert und zu meinem Glück in die Richtung wegtrottet, die nicht meine ist. Bin also heil nach Hause gekommen, allerdings extrem schlechter Laune.

12. 4. 20
Ich bin auf dem Südwestfriedhof mit meiner Schwester verabredet – zwar hoffen wir nicht auf eine Auferstehung, wollen aber Blümchen schenken, weil wir von unseren Eltern früher Kniestrümpfe zu Ostern bekamen. Die selten glücklich machten, denn meistens war es noch zu kühl, um sie zu tragen.
Natürlich habe ich den Fußweg von der Nordstadt unterschätzt und muss rennen: an einem Bettler vorbei, nicht schön, weil ich mir doch gesagt habe, dass ich das Geld für’s Café an Obdachlose verschenken kann. Auf dem Rückweg begegnet er mir erneut und ich bilde mir ein, mich entschuldigen zu müssen: sorry, ich hatte vorhin kein Portemonnaie dabei. Er sieht mich verdattert an: ob er mich schon mal angesprochen hätte? Das täte ihm leid, er müsse so oft fragen, dass er sich das nicht mehr merken kann. Dann hält er mir sein Töpfchen mit lang ausgestrecktem Arm hin, „wegen des Abstands.“ Wir plaudern noch ein wenig und ich erfahre, dass auch er aus der Nordstadt kommt. Aber da betteln derzeit zu viele, deshalb hat er sich ins Kreuzviertel begeben – mit der U-Bahn, es wird ja nicht kontrolliert im Moment. Aber seltsam, dort, wo die reicheren Leute wohnen, gibt kaum einer was. Das las ich bereits in Virginie Despentes Roman „Das Leben des Vernon Subutex“, den er noch nicht kennt. Sie lassen ihn auch ohne Corona nicht in die Bücherei und er ist dankbar für meinen Tipp des Bücherdepots am Althoffblock-Torbogen. Rein äußerlich hätte ich ihn für einen völlig verwrackten Junkie gehalten. Nun weiß ich, dass auch die gern lesen.

17. 6. 20

Bei Taranta Babu sehe ich mit Hasan, der für mich übersetzt, türkische Nachrichten: TRT. Himmel, gestern muss es furchtbare Gewitter, Wind- und Wasserhosen gegeben haben, sodass Istanbul, Izmir und Antalya unter Wasser standen. Hasan ruft seinen Bruder in Istanbul an und erfährt, dass es an einem Tag 16 Grad kühl und am nächsten 42 Grad heiß war. Ich bin gespannt auf die deutschen Abendnachrichten: nichts darüber, kein Wort, kein Bild, kein Ton, ebenso in den heutigen Frühnachrichten. Was ist das denn für eine Medienpolitik? Türkischsprachige MitbürgerInnen sollen gefälligst türkische Sender gucken? Ist es nicht das, worüber sich sonst immer beschwert wird, wenn eine kein Deutsch kann…

Hasans Bruder fragte allerdings sofort, wie weit Dortmund von Gütersloh weg ist, dem neuesten Corona-Hotspot. Die Kunde von den Arbeitsbedingungen in der hiesigen Fleischindustrie ist also bis Istanbul vorgedrungen.

28. 6. 20

Wir tragen ja mittlerweile alle Masken und mir fällt auf, dass dies merkwürdige Dinge mit sich bringt. Ich mag es, den Menschen zuzulächeln – in der Bäckerei, beim Gemüseeinkauf oder in der U-Bahn. Diese Art der Kontaktaufnahme klappt jetzt nicht mehr. Vielleicht sollte ich demnächst Loriot abwandeln und sprechen: „Guten Tag, mein Name ist Astrid, ich fahre in derselben Bahn wie Sie.“

Bin gespannt, wann die ersten Psycho-Analysen erscheinen zum Thema: welcher Typus Mensch trägt was für eine Maske? Gibt’s eigentlich schon Stimmungsmasken?