Astrid Petermeier

Neues aus dem Rührgebiet

Nordstadttagebuch 2003-2009: Ich trinke mir die Nordstadt schön

Alle Namen in diesem Tagebuch sind geändert!

1. 9. 2003
Ich starte in einen neuen Lebensabschnitt: neue Wohnung, neue Arbeit. Die Wohnung besteht aus einem Ostwohnschlafzimmer, das nachmittags recht dunkel ist, einer kleinen, freundlichen Küche und einem Duschbad. Und das, wo ich doch so gern bade! Bevor ich den Mietvertrag unterschrieb, fragte ich eine Freundin: „würdest du eine Wohnung ohne Wanne nehmen?“ Ihre Antwort: „Da hast du doch ein feines Auswahlkriterium für Männer: Er muss eine Wanne haben.“
Seit August bin ich immerhin wieder in Lohn und Brot. Meinem lieben alten Freund Jörn ist seine Bürohilfe von der Fahne gegangen. Er ist Berufsbetreuer und ich weiß nun, dass er keine Berufe, sondern hilfsbedürftige Menschen betreut. Ich fahre also vier Mal pro Woche nach Bochum, um dort einen tiefen Blick in den Keller unserer Gesellschaft zu nehmen. Die Betreuten sind alte Menschen ohne Verwandte, Alkoholiker, Junkies und Leute mit psychischen Erkrankungen. Ich werde also Spezialistin im Anträgestellen.

2. 10. 2003
Wie so oft marschiere ich gleich nach der Arbeit in die Kneipe. Heute präsentiere ich zur Abwechslung mal keinen Jammer, sondern meine erste Lohnabrechnung. Von meiner halben Stelle werde ich nicht reich, zahle aber auch nur 72 Cent an Steuern. Der Kneipenwirt tobt: diese Steuer einzutreiben ist teurer als sie auszugeben! Recht hat er, aber Kleinvieh macht auch Mist. Ich werde ja wohl nicht die einzige mit einem Lohn unter 800 € sein. Da gibt er mir Recht: vor allem hier in der Nordstadt will jeder einen Deckel machen.
Bei der Gelegenheit lerne ich Jupp kennen. Er ist kurz vor der Rente und erzählt mir bei allerhand Bierchen aus seinem Leben: Sein Vater war Ernst Thälmanns Leibwächter, ein guter Kerl, aber leider nicht erfolgreich im Beruf. Jupp selbst wurde 1956 jüngstes Mitglied der KPD, die prompt verboten wurde. Da er damit schon mal kriminell war, konnte er diese Karriere auch fortsetzen: er wurde Einbrecher. Ich frage ihn, wie das zusammengeht – Kommunist und Einbrecher? Aber bitte, er sei doch nicht in Wohnungen eingestiegen. Mit einer Waffe und gebotener Höflichkeit in Banken und ähnliche Institutionen, das sei sein Ding gewesen. Allerdings durfte er auch immer wieder Jahre im Knast verbringen und ist sehr stolz darauf, die prämierte Knastzeitung „Das Kuckucksei“ herausgegeben zu haben. Erst, als er sich ernsthaft verliebte, entschied er sich für einen anderen Beruf, denn er wolle die Zeit, die ihm noch bleibe, mit dieser Frau verbringen.
Die Bierchen machen uns sangeslustig und Jupp ist entzückt, festzustellen, dass ich nicht nur die Internationale, sondern auch noch die 3. Strophe von „Roter Wedding“ beherrsche. Das ist aus meiner K-Gruppen-Jugend übrig geblieben. Der Wirt und die anderen Gäste sind mit Abstand weniger beeindruckt. Doch ich schwanke nach diesem schönen Abend glücklich und zufrieden über den Nordmarkt nach Hause.

12. 12. 2003
In meiner Stammkneipe gibt es einen Sparkasten. Da müssen 5 Euro pro Woche rein und ich kann mir auf diese Weise ein feines Weihnachtsgeld zusammensparen. Dafür brauche ich allerdings erstmal ein Sparfach und da heute Jahresversammlung mit Auszahlungsfest ist, kann ich ein solches erringen. Ich freue mich riesig auf das Fest, denn ich habe schon ewig nicht mehr getanzt.
Doch es soll ganz anders kommen: Bei der Versammlung tritt die Vorsitzende zurück und niemand will ihre Nachfolge antreten. Jupp, Biene und die wilde Hilde sehen mich scharf an. Ich? Ich bin doch noch nicht mal Mitglied. „Du willst aber Mitglied werden.“ Ich erkundige mich, was zu tun ist. Auf gar keinen Fall will ich mit der Leerung des Kastens zu tun haben. Nein, als Vorsitzende muss ich den jährlichen Ausflug organisieren und ab und zu ein Fest. Das kann ich. Bei meiner Arbeitsstelle in Mengede war ich schließlich als wandelndes Festprogramm eingestellt. 10 Minuten später bin ich einstimmig gewählt.
„El Presidente.“ strahlt Jupp mich an, als wir vor der Tür stehen. Ich hätte ihn erlöst, denn er wäre bestimmt dran gewesen, wenn ich es nicht gemacht hätte. Zum Dank bietet er mir einen Stikki an. Zwei Stunden und viele Biere später fühle ich mich mehr als merkwürdig. Ich bilde mir ein, zu schwanken wie ein Hochseeschiff und zugleich alle zuzutexten wie eine Nachrichtensprecherin.
„Du stehst hier seit einer Stunde am Tresen, als habe man dich festgenäht und sagst kein Wort.“ versichert mir der Mann der wilden Hilde. „Hat sich Jupp diesen Scherz erlaubt? Das macht er gerne.“
Für mich ist der Abend gelaufen. Tanzen? Kein Gedanke daran, ich weiß noch nicht mal, wie ich nach Hause gekommen bin.

3. 3. 2004
Ich habe einen Frisörsalon entdeckt, der mir gefällt. Es ist ein Eckladen an der Heroldstraße und die Hausecke über dem Eingang macht den Eindruck, als würde sie gleich auf die Köpfe der Kunden fallen. Die Einrichtung scheint einem Theater entsprungen: griechische Säulen aus Pappmaché, wundersame Wandbemalungen, ein Aquarium, in dem die Fische durch Alicens Wunderland schwimmen können. Dafür versteht der Frisör sein Handwerk. Er sieht mich an und schlägt vor, den Scheitel auf die andere Seite zu verlegen. Der Wirbel halber und weil es besser zu meinem Gesicht passen würde. Wir unterhalten uns ein Weilchen über Kundinnen, die mit einem Foto kommen und einfach nicht einsehen wollen, dass die gewünschte Frisur an ihnen furchtbar aussehen wird. Mitten in die Unterhaltung sagt eine tiefe Männerstimme MIAU. Doch der Frisör lässt sich nicht irritieren und erzählt munter weiter: dass er DSDS und ähnlichen Unfug gucken muss, um für die neuesten Frisurentrends gewappnet zu sein. Wieder tönt es: MI – JAUU! Ich sehe mich um und entdecke den Papagei. Ich bin von Nordstadtpapageien schon allerhand gewöhnt (siehe Nordstadttagebuch 1993), aber eine Männerstimme, die nicht einmal versucht, wie eine Katze zu klingen, ist neu.
„Wie lange hast du gebraucht, um ihm diesen Blödsinn beizubringen?“ frage ich den Frisör.
„Das war ich nicht. Ich glaube, er hat Kinderfernsehen geguckt.“

7. 5. 2004
Ein Freund nimmt mich mit in eine Kneipe ohne Namen. Die Einrichtung ist typisch Nordstadtkneipe, die Gäste sind international. Der Wirt, der eine türkische Staatsbürgerschaft hat, trainiert die Fußballmannschaft Saxonia, die sich aus Jungs mit portugiesischen, arabischen, türkischen und allerhand mehr Pässen zusammensetzt. Und natürlich kommen alle her, um BVB-Spiele im Fernsehen zusammen zu feiern. Spielt der BVB über längere Zeit schlecht, betrachtet der Wirt dies als Geschäftsschädigung. Ich mag es, wenn er auf Stadionsound schaltet, um seinen Gästen die Kommentare von Bela Rethy zu ersparen. Was der ihnen getan hat, weiß ich nicht, aber ich war noch nie im Stadion, weshalb ich den Sound genieße.
Sie gucken ziemlich schräg, als ich von meiner Sparclub-Präsidentschaft erzähle. Das wäre doch eine Kneipe voller rechtsdenkender Typen. Pah, aber nicht, wenn Jupp und ich da sind. Wenn dann am Tresen blöde Sprüche gekloppt werden, fangen wir an zu singen. Mittlerweile sind wir berüchtigt und es heißt schon: „Seid still, sonst müssen wir wieder Roter Wedding hören.“

1. 3. 2005
Heissa, ich bin drin in meiner neuen schönen Wohnung! Auf die Dauer war das düstere Dachkämmerchen doch deprimierend und nun habe ich eine gefunden, die ganz nach meinem Herzen ist: ein riesiges, seltsam geformtes Zimmer, ein Duschbad (man gewöhnt sich an alles), ein kleines Zimmer zur Straße und das Beste ist die Terrasse. Eine Nordstadtwohnung mit Terrasse, auf die mein großer Oleander passt. Das Ganze im Parterre und komplett behindertengerecht. So werde ich die einzige in seinem Freundeskreis sein, die mein Rollstuhl-Freund Enrico problemlos besuchen kann.
Das Beste am Umzug war die wilde Hilde: sie kam erst, als wir schon alle Kisten aus der alten in die neue Wohnung geschafft hatten. Da sie die Umzugsbiere nicht umsonst trinken wollte, machte sie sich ans Kistenauspacken. Ich hätte noch Monate gebraucht, bis ich alle Bücher in die Regale geschafft hätte. Doch dank Hilde muss ich nun nur noch sortieren.
Schwerer Fehler: ich habe mein Fahrrad in die Einfahrt zum Hof gestellt, ohne das Tor zu verschließen. Nun habe ich keins mehr.

15. 3. 2005
In meiner Nachbarschaft wohnt die PDF mitsamt Rosa Luxemburg und Karl Marx. Rosa gibt es natürlich nur auf Plakat als Sarah Wagenknecht. Aber Karl Marx kommt mir verflixt echt vor: mit langen weißen Haaren und ebensolchem Rauschebart sitzt er auf einem Stuhl vor dem Ladenlokal und grüßt freundlich. Das nenne ich mal eine feine Umgebung.

3. 8. 2005

Mir macht die Arbeit im Betreuungsbüro richtig Spaß. Ich betrachte das Stellen von Anträgen, seit Januar auch Hartz 4, als Sport und ich will gewinnen. Doch wir haben uns von unserem Bürokollegen trennen müssen und Jörn allein kann sich meine Arbeit kaum leisten. Wir ziehen mit dem Büro um in einer weniger feine Ecke Bochums und in ein Ladenlokal mit Schaufenster. „Damit betreiben wir gleich Akquise in diesem Viertel“, lacht Jörn und ich denke, dass unser Büro in der Dortmunder Nordstadt noch viel besser aufgehoben wäre. Aber ich mag es, nicht dort zu arbeiten, wo ich wohne. Ich habe jetzt nur noch eine Viertelstelle und muss aufstocken. Heute ist Termin bei der ARGE, arggh! Ein guter Freund, der ebenfalls Hartzer ist, begleitet mich und staunt über die Akademiker-Abteilung: keine Warteschlangen in den Gängen, keine Hektik, ich werde pünktlich zum Termin eingelassen. Er selbst ist kein Akademiker und sagt, dass es in seiner Abteilung ganz anders zugeht. Das Wörtchen bitte, mit dem ich ins Beraterbüro gebeten werde, sei dort völlig unbekannt.

8. 8. 2005

Biene und ich haben Dortmund mittlerweile zu Fuß umrundet und steigen auf’s Fahrrrad um. Weil mein Vater mir sein Rad geschenkt hat: ein Alurad, wunderbar leicht. Wir radeln also am Kanal entlang von Dortmund bis Crange.  Es ist meine erste größere Radtour seit dem scheußlichen Unfall anno 94, weshalb Biene eine Strecke auswählt, zu der parallel die S-Bahn fährt. Die wir bis Crange nicht brauchen, denn bergauf schiebe ich. Wer sich fragt, wo es am Kanal denn bergauf geht, sei auf die Brücken verwiesen. Die liegen nämlich etwas höher und ich bin echt ungeübt. Vor der Kirmes ketten wir die Räder so aneinander, dass Bienes BVB-Aufkleber nicht sichtbar ist. Sie meint, wir wären in „Feindesland“ und sie hängt sehr an ihrem Rad. Ich erkläre ihr, dass Gelsenkirchen für mich ohnehin die Sondermülldeponie ist, auf der meine Ex-Männer entsorgt werden – gleich 2 haben sich dorthin verpampelt. In Gedenken an den Unfall traue ich mir nur ein Kirmesbier zu. Dafür radeln wir die ganze Strecke auch wieder zurück und ich bin selig, als wir im Dortmunder Hafen mit einem grandiosen Sonnenuntergang belohnt werden.

10. 11. 2005
Es ist wahrlich 30 Jahre her, dass ich am Einstein Abitur gemacht habe. Wir waren die Forschungshasen in Sachen Kurssystem, weshalb es kein Klassen-, sondern ein Stufentreffen gibt. Im Wichernhaus, was ich besonders zu schätzen weiß, da es gleich um die Ecke ist.
Ich ahne schon, dass es in erster Linie um die „Was ist aus dir geworden?“- Frage gehen wird. Was soll ich darauf antworten? Lebenskünstlerin, schlägt ein guter Freund vor. Ich selbst nenne mich lieber Büromieze und bin gespannt darauf, welche Karrieren wohl vor mir ausgebreitet werden.
Doch dann fliegt mir meine alte Schulfreundin in die Arme.
„Mann?“ fragt sie. Antwort Nein.
„Kinder?“ Antwort Nein.
„Karriere?“ Antwort Nein.
„Genau wie bei mir. Lass uns zum Wesentlichen kommen.“ sie öffnet eine neue Weinflasche.
Zu fortgeschrittener Stunde stehen wir vor der Tür, rauchen und trinken den zigsten Absacker. Der erfolgreiche Architekt erzählt von den Rehen, die an seinem Gartenrand stehen und stellt uns vor die Frage, wo er sein Auto lassen soll. Denn fahren kann er nicht mehr. Ich frage ihn, wo es denn steht und darauf scheint er gewartet zu haben. Mit ausgestrecktem Finger zeigt er auf seinen Porsche. Nun, der steht keineswegs im Parkverbot, ich verstehe sein Problem nicht.
„Du würdest doch so ein Auto nicht in dieser Gegend stehen lassen?“
Da schlage ich einen kleinen Spaziergang durch die Nordstadt vor. Denn unsere Straßenränder zieren allerhand Luxuskarren, auf die Migrantenfamilien inbrünstig sparen. Es sind doch nicht nur die Eingeborenen so bekloppt, jede Menge Kohle in ihr Statussymbol zu stecken.

16. 11. 2005
Bei mir in der Nähe gibt’s eine Kneipe, aus der von morgens bis abends Schlagermusik quillt. Ich kann’s schon nicht mehr hören, dass es einen Stern gibt, der deinen Namen tragen soll.
Heute aber hat die türkische Fußballmannschaft die Schweiz geputzt und das wird mit Autokorso, Tanz und Tralala über die ganze Mallinckrodtstraße gefeiert. Ich traue meinen Augen nicht, als ich an besagter Kneipe vorbeikomme und der Eingang mit einer türkischen Flagge verhängt ist. Aus dieser Kneipe habe ich bislang nur Strammdeutsche schwanken sehen. Je näher ich komme, desto klarer wird die Sache: es sind türkische Jugendliche, die ihre Fahne vor die Tür halten und dazu singen sie laut: „Ein Stern, der unser’n Namen trägt.“ 100 Punkte für diese Nummer!

11. 6. 2006
Meine Nachbarinnen sind schon komische Nudeln. Im vergangenen Sommer zogen sie über den Hof an meiner Terrasse vorbei ohne einen Ton zu sagen. Erst, seit ich ihnen zum 7. Mal den guten Tag entbot, grüßen sie zurück. Die meisten sind alte Leutchen, die aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Da sie alle im gleichen Haus wohnen, war es nie nötig, die deutsche Sprache zu erlernen.
Das führt zu skurrilen Missverständnissen. Der freundliche Herr, der mir gern die Hand drückt und „gutte Gesundheit“ wünscht, schneidet den schönen Blauregen ab, weil der seinen Schüsselempfang für russisches Fernsehen stört. Als sei das noch nicht genug, entsorgt er den Grünschnitt in der gelben Tonne. Ich gehe zu ihm und versuche mit Händen und Füßen klar zu machen, dass diese Tonne nur für Plastik ist. Er strahlt mich an, sagt „Ja!“ und macht weiter.
Dann ist da noch die Dame, die ihren Hund im Hof ausführt. Dabei beäugt sie mich äußerst neugierig und gibt lauthals an die oben Wohnenden durch, was ich gerade tue. Ich brauche ich einen Schlüssel für den Hauptkeller, in dem die Stromzähler sind. Da ich keinen Keller habe, habe ich auch keinen Schlüssel und bitte sie um ihren. Nach langem Hin und Her hat sie immerhin Keller und Schlüssel verstanden und beantwortet dies mit „Sohn anruffen.“

12. 6. 2006
Ich bin gespannt, ob der Sohn mich für vertrauenswürdig hält. Siehe da, sie kommt mit einem Schlüssel, der allerdings gerade mal zu einem Vorhängeschloss passt. Es ist der Schlüssel zu ihrem privaten Keller, der beim Sohne weilte. Damit kann ich nun gar nichts anfangen. Ich schüttle den Kopf und sage Stromzähler. Das versteht sie nicht. Da ihr Hund sehr klein ist, braucht er keine lange Hofrunde und ich wackele einfach hinter ihr her, als sie wieder ins Haus geht. Als ich auf die Hauptkellertür zeige, ist sie bestens amüsiert. Natürlich hat sie diesen Schlüssel immer dabei. Warum einfach, wenn’s auch umständlich geht?

2. 7. 2008
Ich bin wieder mal aus meiner Stammkneipe über den Nordmarkt nach Hause marschiert – vermutlich nicht in gerader Linie und obwohl ich versprechen musste, außenrum statt mitten über den Platz zu gehen. Pah, mich hat noch nie einer schräg von der Seite angemacht und das ist meine Nordstadt. Ich lasse mir doch nicht verbieten, den kürzesten Weg zu nehmen.
Aber ich habe noch Durst. Am Kiosk finde ich türkischen Wein, Vila Doluca. Da Wein selten gekauft wird, muss der Kioskbetreiber auf seine Leiter klettern, um ihn aus dem obersten Regal zu fischen. Gnade, ist das peinlich, nach dieser Aktion festzustellen, dass ich nicht genug Geld dabei habe.
„Bringst du morgen.“ lacht der Kioskbesitzer. „Du bist doch Stammkundin.“

8. 7. 2006

Da fehlt doch was vor meiner Terrasse. Verflixt, das wunderbare Fahrrad von Papa! Ich hatte sogar eine Christo-artige Fahrradgarage und zwei dicke fette Kettenschlösser dafür gekauft – ebenfalls weg. Wieso kriegen meine Nachbarn es nicht gebacken, das Hoftor zu schließen? So anstrengend kann es doch nicht sein, noch mal aus dem Auto zu steigen, wenn man aus dem Tor hinausgefahren ist, um es zu schließen. Biene kommt abends vorbei, weil wir Freiluft-Fußball-Fernsehen auf meiner Terrasse schauen wollen. Sie bringt Tröten, Fähnchen und Girlanden mit, ich habe Bier besorgt. Sofort fragt sie nach dem Rad. Ich erkläre, dass es bereits das 2. ist, das mir aus diesem Hinterhof geklaut wurde und dass ich morgen mit einem Foto davon allen Kiosken und Kneipen der Umgegend Besuch abstatten werde. Sie lacht mich aus: Was glaubst denn du, wo solche geklauten Sachen weiter verhökert werden?

4. 4. 2007

Biene hat ein neues Rad für mich, halleluja! Ein Modell älteren Jahrgangs, von ihrer Mutter, die nicht mehr fährt. Es ist weiß und heißt Alfira. Wir können also auch in diesem Jahr wieder Touren unternehmen. Sie rät mir, es in die Wohnung zu stellen, einen Keller habe ich ja nicht (was übrigens von Vorteil ist: ich horte nicht mehr). Ich finde Fahrräder in Wohnungen vollkommen affig. Außerdem habe ich nicht so viel Platz.

6. 5. 2008

Gestern spaziere ich mit einem Freund in Richtung Fredenbaum. Auf der Straße sehe ich einen kleinen Jungen mit dem Fahrrad so schnell fahren, wie er nur kann. Hinter ihm naht ein Auto und er kriegt es mit der Angst zu tun, reißt sein Fahrrad die Bordsteinkante hoch und rast auf uns zu. Mein Freund kann gerade noch beiseite springen, doch mich fährt der Kleine über den Haufen. Ich blute zwar nicht, bin aber mit dem Kopf auf’s Pflaster oder an das Kinderfahrrad geschlagen. Mir ist schwindlig und ich fühle eine Beule wachsen. Die Umstehenden rufen sofort einen Krankenwagen und so komme ich doch noch zum Fredenbaum. Die Klinik ist gleich daneben und der Notarzt will wissen, wie ich mir die Gehirnerschütterung zugezogen habe. Er notiert „Fahrradunfall“, was ich nicht korrekt finde.

Heute früh klingelt es und der Vater des Kindes steht mit einer Schachtel Pralinen vor der Tür. Oh, ich liebe türkischen Honig! Der Himmel weiß, wie er rausgekriegt hat, wie ich heiße und wo ich wohne. Mir das zu erläutern, reicht sein Deutsch nicht. Immerhin bringe ich in Erfahrung, dass dem Kind nichts passiert ist und der Vater ist glücklich, weil ich keine Entschädigung will. Mein Chef hingegen liegt am Boden vor Lachen, als ich ihm schildere, warum ich für den Rest der Woche krank geschrieben bin. Er habe noch selten von einem Fahrradunfall gehört, bei dem die Verunfallte nicht selbst auf dem Rad saß und ein Kind der Verursacher war.

15. 9. 2009
Monika, meine Kneipenwirtin, nimmt mich beiseite. Sie habe mir lange genug zugesehen und müsse das jetzt los werden: Pass auf mit dem Alkohol. Du übertreibst.
Au weia! Wenn das schon die Wirtin sagt, muss was dran sein. Es ist ja nicht so, dass ich erst in diesem Lebensabschnitt mit der Trinkerei angefangen habe. Eigentlich bin ich seit 1979 munter dabei. Also versuche ich – keineswegs zum ersten Mal – mindestens eine Woche lang nichts zu trinken. Das klappt nicht.
Mit einer Freundin fahre ich zu einer Lesung von Simon Borowiak. Sein Buch trägt den Titel „Alk“ und ist eine sehr witzige Schilderung von Alkoholismus und Entzug. Unter anderem ergänzt er die bekannten Fragebögen zum Thema „Woran erkenne ich, dass ich alkoholkrank bin?“ um sein Borowiak-Kriterium: Alkis streichen gern im Kalender die Tage an, an denen sie mal nichts getrunken haben. Ertappt!

9. 10. 2009

In der Nordstadt wird nicht nur gesoffen, dort wird auch Sport getrieben und ich habe mir überlegt, dass das „Speck-weg-Programm“ meiner Muckibude gegen meinen Bierkonsum und seine Folgen hilfreich sein könnte. Der Trainer marschiert mit uns in den Fredenbaum, wo wir Walking-Runden drehen. Ohne Stöcke, wir ziehen uns mit den Fäusten vorwärts, was gut für’s Herzpumpen sein soll. Die Runde, die er uns vorschlägt, ist genau 3 km lang und wir machen sie 3 Mal. Im Ernst und obwohl ich mir das niemals zugetraut hätte. Zugegeben, ich bin die Langsamste und auch nicht in der Lage, dabei noch zu plappern wie die anderen. Als ich abends in meine Kneipe einkehre und stolz verkünde, was ich vollbracht habe, findet niemand etwas Besonderes daran. Pah!

20. 11. 2009
Ein Freund von mir ist gestorben. Im Mai meine Mutter und nun Robbert. Es gibt noch die halbe Flasche Rum aus der Nacht nach Mutters Tod. Die gieße ich mir, verfeinert mit diversen Bierchen, hinter die Binde und dann heißt es: alle Regler nach rechts. „Good Times“ von Eric Burdon.
Auf diese Weise lerne ich meinen neuen Nachbarn kennen, der am 1. 11. eingezogen ist. Meine Entschuldigung lehnt er ab mit den Worten „Wenn es dunkel ist, muss der Vatter schlafen.“ Was ist das denn für ein komischer Vogel?