Lobende Rezensionen braucht die Ausstellung ICH BIN EINE KÄMPFERIN in Dortmund nicht mehr. Da ich nix zu meckern habe, gebe ich Reflektionen über die Entwicklung meiner Wahrnehmung der Kunst von Niki de Saint Phalle zum Besten, die hoffentlich zum Ausstellungsbesuch verführen.
Wir waren Studentinnen und junge Feministinnen, als mir Niki de Saint Phalle 1977 zum ersten Mal begegnete. Wir suchten nach den Frauen in der Kunstgeschichte und waren selig, wenn wir auf einen anderen Namen als Käthe Kollwitz oder Paula Modersohn-Becker stießen. Da Künstlerinnen zu dieser Zeit weitestgehend ignoriert wurden, bedeutete die Suche Ende der 70er echte Wühlarbeit quer durch die Zeitschriften und Überblickswerke. Das Finden ergab dann einen Artikel, eine Erwähnung, eine Abbildung, aber gewiss keinen Überblick über längere Schaffensperioden einer Künstlerin. Entsprechend groß die Freude, als eine aus unserer Frau-und-Kunst-Gruppe Niki de Saint Phalle fand – und zwar die Nanas, die sie seit 1965 schuf.
„Meine erste Ausstellung mit Nanas nannte ich ‚Nana-Power‘. Für mich waren sie Symbole einer fröhlichen, befreiten Frau.“ (die Künstlerin/ Beiblatt 10 zur Dortmunder Ausstellung)
In einem Gespräch mit dem von mir sehr geschätzten Prof. Max Imdahl über das systematische Vergessen von Künstlerinnen, zeigte ich ihm Abbildungen der Nanas und erhielt zur Antwort eine Provokation, die meinen Blick auf diese Arbeiten viel zu lange geprägt hat:
„Haben wir es hier nicht mit Kitsch zu tun?“
Ich wollte keiner falschen Verherrlichung weiblicher Kunst aufsitzen, schluckte tief und fand erst 40 Jahre später die Rückfrage, die ich hätte stellen können: „Müssen wir dann nicht ungezählte Werke der Pop-Art, z. B. Andy Warhols so beliebte Marilyn, ebenso zu Kitsch erklären? Und geht Allen Jones Tisch (über den wir uns damals schrecklich aufregten) nicht über den Kitsch hinaus in die Geschmacklosigkeit?“
Naja, Spontaneität war noch nie meine Stärke. Zum Glück arbeiteten wir uns bis zu Niki de Saint Phalles Ausstellung HON vor (Stockholm 1966). Meine Fresse, muss das ein Skandal gewesen sein – und mindestens so unkitschig wie Allen Jones. Eine riesige bunte Frauenfigur, breitbeinig auf dem Rücken liegend, barg eine Galerie der Fälschungen, ein Kino für den 1. Greta-Garbo-Film, in den Brüsten eine Milchbar, im Verdauungstrakt eine Zerkleinerungsmaschine für Coca-Cola-Flaschen, eine Rutschbahn im Bein usw. Vor allem aber war die Hon nur durch ihre Scheide betretbar. Es ist bezeichnend, dass kaum Abbildungen der Innenräume publiziert werden (mir ist keine bekannt!), immer wieder aber solche:
Für mich hatte die Hon diese Bedeutung: einen anderen Zugang als den, der euch peinlich sein mag, lasse ich euch nicht. Innen aber sollt ihr wahrnehmen, welche Kraft Frauen dieser Welt schenken und wie die Welt damit umgeht.
Die Idee, dass die Künstlerin sich mit diesem Werk identifizierte, also die permanente und massenhafte Penetration als Selbstverletzung zuließ, kam mir damals nicht. Missbrauch wurde erst in den 80ern öffentlich thematisiert, derweil die 70er noch von freier Sexualität geprägt waren. Ich sah (und sehe sie noch heute) nicht als Opfer, sondern als Schöpferin, als eine, die aufmerksam macht auf das, was Frauen permanent und massenhaft geschieht.
Erst, als ich mich viele Jahre später mit den Nouveau Réalistes befasste, erhielt ich Kenntnis von Niki de Saint Phalles Schießaktionen in den frühen 60er Jahren. Ich bewunderte die Kunst von Daniel Spoerri, Jean Tinguely und die Aktionen und Ergebnisse der Niki de Saint Phalle. Holla, ein Flintenweib unter Männern! Auf präparierte Bilder zu schießen, bis sie Farbe ausbluten, war etwas, das ich als nicht kontrollierbare Kunstproduktion, die Eroberung des Zufalls großartig fand. Ihre Erzählungen darüber, wie der Akt des Schießens mit einem Gewehr ihr Freude machte, Lust bereitete, sogar zur Sucht geriet, hinterließ Unbehagen in mir.
Ich kannte ihren 1977 gedrehten Film „Daddy“ nicht, in dem sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater öffentlich machte. Als ich endlich davon erfuhr, war meine Reaktion ein „aha. Das klärt’s. Daddy, soviel Publizität hast du verdient.“ Ich konnte nun verstehen, dass die Lust an der Schießerei sowohl ein SYMBOLISCHER Akt war, als sie auch Wut freiließ, die Lust bereitete.
Zugleich fühlte ich mich ertappt. Ich hatte meine Abschlussarbeit über Artemisia Gentileschi, eine Malerin des 17. Jahrhunderts geschrieben, die die Welt bis heute mit diesem Gemälde erschreckt:
In vielen Vorträgen über die Malerin war mir aufgefallen, dass mein Publikum erst dann von der Ablehnung zum Interesse an diesem Bild (Judith enthauptet Holofernes) kam, wenn ich von der Vergewaltigung der Künstlerin durch ihren Lehrer sprach, wenn ich von dem anschließenden Gerichtsprozess erzählte, in dem sie mit Daumenschrauben gefoltert wurde.
„Dann, ja dann kann man dieses furchtbare Bild verstehen.“
Nur dann? Für das Verstehen ähnlich brutaler Gemälde eines Rubens (Enthauptung des Johannes) oder Caravaggio (Judith) waren derlei Vorgeschichten nie nötig.
Da dürfen selbstverständlich die Kreativität, die Komposition, der Pinselstrich des Meisters im Vordergrund stehen.
„STATT TERRORISTIN ZU WERDEN, WURDE ICH TERRORISTIN DER KUNST.“
sagt Niki de Saint Phalle und bringt mich zum Grinsen.
Was wäre aus Rubens, Caravaggio und ungezählten anderen Größen geworden, wenn sie die Kunst nicht gehabt hätten? Täter? (Gnade, Peter Paul Rubens war ebenso wie der schießwütige Westernheld Ronald Reagan auch Politiker!) Aber diese Frage wird anlässlich beängstigender Werke nur an Künstlerinnen mit offener Biografie gestellt.
Im Gegensatz zu meiner eigenen Wahrnehmungsgeschichte der Kunst Niki de Saint Phalles ist die Dortmunder Ausstellung chronologisch aufgebaut. Im Eingang hängt ein Selbstportrait von 1958/59, aus dem sich ihre Zersplitterung ablesen lässt. Eine Freundin, mit der ich dort war, nannte die Werke aus den frühen Jahren verstörend, für großes Unbehagen sorgend. Die Bedrängnis und das Leid der Künstlerin wurden fühlbar für sie. Niki de Saint Phalle nimmt Bezug auf psychologische Themen wie die verschlingende Mutter, auf Rassismus, auf Gewalt in kriegerischer, alltäglicher und emotionaler Form, auf Aids und auch auf Mädchenträume.
Aus der Chronologie ihrer Werke wird ihr Heilungsprozess ersichtlich oder – sehr verkürzt ausgedrückt: ihr Weg von der Zersplitterung über die Schießaktionen, die Hon, ihre Auseinandersetzung mit Mutter- und Frauenbildern zu den Nanas und in ihren Tarotgarten. Sie hat Kunst als Therapie genutzt, hat auf diese Weise Skandale provoziert und erreicht, was Kunst erreichen sollte: Fragen stellen, sichtbar machen, was wir nicht sehen wollen. Dazu gehört auch die Vision der glücklichen, befreiten Nana.
Ich habe im vergangenen Sommer Niki de Saint Phalles TAROTGARTEN in der Toskana besucht und war hin und weg.
In enormer Detailverliebtheit hat sie sich gemeinsam mit vielen vielen Helfern/innen den Traum erfüllt, einen Vergnügungspark (ihre Worte!) aus Architekturen und Skulpturen zu hinterlassen. Weil 2016 ein verdammt hartes Jahr war, hat es mehr als gut getan, mich unter lauter strahlenden, beglückten Besuchern zu befinden, die „aah!“ und „guck mal dahin!“ und „sieh‘ nur“ ausrufen, weil jede kleine Kachel und Treppe etwas zu bieten hat.
Wann habe ich zuletzt ausschließlich glückliche Menschen um mich herum erlebt?
Heilung vollzogen?
und/oder: Kitsch im ganz großen Format?
Weder – noch!
Nichts und Niemand kann den Eindruck wegwischen, den schreckliche Ereignisse in unserer Persönlichkeit hinterlassen. Sie prägen uns und unseren Umgang mit dem Leben. Genau dem hat sich Niki de Saint Phalle mit ihrer Reise in die Spiritualität gestellt.
Das Tarot ist ein Kartensatz, in dem 22 große Arkana-Bilder vom Wachstum der Persönlichkeit erzählen, von Situationen, Befindlichkeiten und Möglichkeiten, die uns im Leben immer wieder begegnen. Es handelt sich keineswegs nur um angenehme (?) Erfahrungen wie Niki de Saint Phalles Formulierung der Herrscherin/Imperatrice oder Großen Mutter
die Wohn- und Heimstätte für die Künstlerin wurde.
Sie musste sich ebenso mit dem Tod
also dem Prinzip des Stirb-und-Werde, auseinandersetzen,
mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit,
(in die ihr Lebensgefährte Jean Tingueliy die Ungerechtigkeit einsperrte),
und mit der Frage nach der Mäßigkeit – ein echtes Problem für eine Drama-Queen!
Wie intensiv sie das fast 20 Jahre lang tat, wird aus den Details (Detailverliebtheit bedeutet immense Disziplin!) ebenso deutlich wie aus ihren Kommentaren:
aus: Niki de Saint Phalle: Der Tarotgarten, 2000, Benteli
Mäßigkeit Außen und Innen/Details
Mich faszinierte an diesem Garten, wie es ihr gelungen ist, sowohl einen Vergnügungspark zu hinterlassen, der Menschen einen Moment des Glücks bringt, als auch sich selbst und anderen die Auseinandersetzung mit Prinzipien des Lebens zu ermöglichen, die grundsätzlich und schwierig bis schmerzhaft sind.
Ich kehrte nach Dortmund zurück und erfuhr, dass im Dezember hier eine Niki de Saint-Phalle-Ausstellung eröffnen wird.
„Heissa, am 9.12. eröffnet die Niki-de-Saint-Phalle-Ausstellung unter’m U in Dortmund. Finde ich nett, dass sie mir einen Rückbesuch abstattet, denn ich war im Sommer in ihrem Tarotgarten in Italien. Bin gespannt, ob die im Museum zu ihren „Frauenbildern“ wirklich noch was Neues zu sagen haben.“ schrieb ich in meinen Facebook-Account.
Heute sage ich, dass es eine unbedingt sehenswerte Ausstellung ist, die ebenso verstört, wie sie ins Erkennen, Reflektieren und Lächeln bringt. Ich habe in diesen Text absichtlich keine Bilder aus der Ausstellung gesetzt, damit ihr auch bloß alle hingeht. Sie ist noch bis zum 23. 4. 2017 im „MO“ im U-Turm zu sehen.
(kleine Anfrage einer alten Spötterin an die Museumsleute: wann benennt ihr das Museum am Ostwall, das dort vergeblich gesucht wird, endlich in MU um?)
17. Februar 2017 um 14:57 Uhr
Liebe Astrid,
das ist wahrlich eine spannende Geschichte! Niki war wirklich eine sehr mutige, sehr konsequente Künstlerin. Mut zur Wandlung, was nicht so ohne ist. Hut ab!
Ich versuche auf jeden Fall, mir in Dortmund einen Eindruck zu verschaffen. Im Brühler Max Ernst Museum bin ich durch eine Ausstellung ihres Werks vor einigen Jahren auch auf ihre Auseinandersetzungen mit dem Tarot gestoßen – und war sehr beeindruckt! Anschließend habe ich begonnen, diese seltsamen Karten mit neuen Augen zu sehen….Kunst kann wirklich viel bewegen!
Liebe Grüße Ute
P.S. Wieso Kitsch? Dieser „Stempel“ sollte den Urteilenden wohl eher vor einer Auseinandersetzung schützen…
15. Februar 2017 um 13:35 Uhr
Ich vergass (Sic!): den professoralen Kitsch-Kunst-Diskurs und deshalb mein zufällig glücklicher Anklang und Rechtfertigung mit einem carnevalistischen Beispiel zur, jetzt wieder fasnächtlichen Zeit für unbeteiligte (den „Aachen“ ist weit! Lol) zu erläuteren
ad 2a) 😀
2) Millionenschwere Kunst oder carnevalistischer Kitsch?!, das ist immer relativ und offenbar auch noch zeitabhängig. Und deshalb darf ein Urteil, und sei es professoral, nie endgültig sein; oder ist das jetzt schon zu viel, was in den historischen und juristischen Wissenschaften als zwingend gilt?! (‚Zeitwort‘ vom 15.2.2017/ 6:37 auf SWR2). grins/unschuldigblick!
‚Gemäß‘ folgt der Deutschen, ‚vergass ‚ der korrekten Schweizerischen Rechtschreibung Weiterführendes:
http://sprachen-texte.ch/home/sprachen/052405a67f0dcb667.html
27. Februar 2017 um 18:18 Uhr
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob Max Imdahl mit seiner Frage, ob wir es hier mit Kitsch zu tun haben, wirklich ein Urteil fällte. Kann gut sein, dass er mich (junge Feministin von Verve!) einfach provozieren wollte. Was denn gut gelungen ist – auch wenn ich die Antwort erst 40 Jahre später fand, grins!
15. Februar 2017 um 12:56 Uhr
Will es ein doppelter Zufall 😀
1) Müsste eine Drehbuchschreiberin nicht den roten Teppich noch in Berlin schützen und auf dem Sprung zu der anstehenden Verleihung der Oscarinnen sein :-D? Jedenfalls wird davon im Kultur-Rundfunk berichtet, dessen Beiträge mich elegant überleiten zu:
2) Nicci (de Saint Phalle) war Jannot’s (Tinguely) „Zierde“; und er war in der ARI, einem künstlerisch, intellektuellen, politischen und einem carnevalistischen Haufen, der genau heute (15.2.2017) vor 47 Jahren Beuys zu seiner Feuerstätte II-Konstruktion einlud. Seine Feuerstätte war DAS Streitthema des vergangenen Jahres (1969), weswegen der Haufen“ (gemäß seiner engagierten Tradition) dieses Thema derart aufgriff, dass sogar New York reagierte 😉 ‚Zeitwort‘ vom 15.2.2017/ 6:37 auf SWR2.
Ist das ausreichend Kommentar, der – ach ja, das fällt ja sowieso wieder flach, grins/unschuldigblick!
Weiterführendes: http://www.sprachen-texte.ch
15. Februar 2017 um 11:08 Uhr
Hallo Astrid,
toller Kommentar. Ich habe über Niki einiges gelesen aber war noch an keinem dieser Orte, die du nennst. Neugierig auf die Ausstellung im MU bin ich nun. Interessant finde ich wie präsent Gespräche aus der Vergangenheit sind und nie weg sind, so dass sie im Unterbewussten Impulse zur Auseinandersetzung geben.
„Der Mensch ein wundersame Wesen“
Liebe Grüße bis auf bald.
monika
14. Februar 2017 um 20:05 Uhr
selten eine so anregende Darstellung einer Künsterlin und deren Rückbesuch gelesen – Dankeschön!
Also auf zum „MU“ und ganz sicher im Sommer auch wieder in den Hoge Veluwe Park in den Niederlanden 🙂