kann das Leben nicht genießen. Dein heilsamer Geist.“
Ach, du gute Tante Mimi. Jeden Tag legt sie mir so ein liebes Zettelchen in die Butterdose. Ich muss es erst lesen, sagt sie, und darf dann futtern. Doch es klingelt und klingelt aus Zimmer 17 und ich frage mich, wo Margret steckt.
„Margret hat sich krank gemeldet.“
Na super! Wenn Magret nicht mindestens halbtot ist, erkläre ich sie zum Kollegenschwein. Andere pfeifen sich bei einem Schnüpfchen ja auch Antiobiotika rein, statt sich ins Bett zu legen. Ich verzichte auf meine Frühstückspause und renne zu Patient – wie hieß er noch gleich?
„Guten Morgen Herr Müller.“
„Meier! Das Abführmittel hat vor 20 Minuten gewirkt.“
Na, wie gut, dass ich noch nicht gefrühstückt habe. Innerlich auf Margret fluchend, säubere ich erst Herrn Meier, lasse sein Geschimpfe über mich ergehen und beziehe sein Bett neu. Die Tochter seines Zimmernachbarn ist schon da, hält sich die Nase zu und öffnet mit dem eigentlich-ist-das-Ihre-Aufgabe-Blick das Fenster. Sie erkundigt sich, wann ich endlich gedenke, ihrem Vater die Kompressionsstrümpfe anzuziehen. Ich erkläre ihr, dass eine Kollegin erkrankt ist und erhalte zur Antwort, dass sie der nur wünschen kann, nicht hier zu landen.
Im Stillen stimme ich ihr zu. Hier hat man nicht mal Zeit zum Frühstücken. Dass der Hunger mir mittlerweile bis unter die Achseln steht, weil ich seit sechs in der Frühe renne, interessiert keinen Patienten und keine Pralinen bringende Besucherin. Als ob sich jemand morgens um Zehn über Pralinen freut. Freuen würde sich ihr Vater, wenn endlich die Physiotherapeutin käme. Aah, da flitzt sie ja gerade vorbei.
„Hat Herr Müller heute Physio?“
„Genau. Bringe ihn doch schon mal rüber.“
„Kannst du ihn nicht mitnehmen? Ich muss noch ins Isolierzimmer.“
„Das ist Aufgabe der Pflege, meine Liebe.“
Ach, was gehen mir diese Therapeutinnen auf den Keks. Gehört der Weg von seinem Zimmer zur Therapie etwa nicht zur Mobilisierung? Ich kenne die Antwort: wenn sie jeden Patienten abholt, kann sie umso weniger behandeln. Diesen Therapeutinnen geht es doch nur darum, keinen Handschlag zu tun, der zu den niederen Aufgaben der Pflege gehört. Eigentlich sollte ich selbst Therapeutin sein und es ablehnen, Patienten zu füttern, weil ich schließlich Ernährungsberaterin bin. Aber als ich meine Zusatzausbildung gerade abgeschlossen hatte, fiel genau diese Stelle den Sparmaßnahmen zum Opfer. Ein Krankenhaus muss schließlich wirtschaftlich arbeiten.
Ich renne zum Isolierzimmer, will gerade in Kittel und Mundschutz schlüpfen, da erwischt mich die Doktorsche.
„Warum warst du nicht beim Frühstück, Schwester Inge?“
„Erstens: Margret Lang ist krank und ich renne für sie mit. Zweitens: mein Name ist Frau Schmidt, soviel Zeit muss sein.“
Diesen Kampf führe ich, seit die Ärzte immer jünger werden. Wir nennen sie spaßeshalber die Kinderärzte, denn die sind billiger als erfahrene Kollegen. Lasse ich mich von ihnen mit Schwester und Vornamen anreden, sind sie ganz schnell beim Du – was sie sich umgekehrt trotz ihrer Jugend verbitten. Und überhaupt: seit wann nimmt die Doktorsche am Pflegefrühstück teil?
„Ich bin eure Gewerkschaftsvertreterin.“ klärt sie mich auf und hält mir eine Unterschriftenliste vor die Nase.
Wir erklären uns solidarisch mit den streikenden Busfahrern, lese ich.
Von wegen! Wer erklärt sich denn mit meinem knurrenden Magen solidarisch? Soll ich vor lauter Solidarität morgen noch eine Stunde früher aufstehen?
Die Doktorsche sieht mich an, als habe ich zur AfD-Wahl aufgerufen und knurrt mir zu, dass der Isolierpatient heute erstmalig eine Suppe an Stelle der künstlichen Nahrung bekommt. Er muss natürlich gefüttert werden. Ja, Rache ist schmackhaft, denke ich mir und unternehme den zweiten Versuch, Kittel und Mundschutz anzulegen.
„Wo bleibt Herr Müller?“ schreit die Therapeutin aus der Physio.
Herr Müller findet es witzig, dass ich ihn mit Mundschutz über die Gänge führe. Er wäre doch der mit dem Mundgeruch, weil keiner Zeit hat, ihm beim Zähneputzen zu helfen. Vor lauter Lachen über seinen guten Witz muss er husten, bleibt stehen, die Zeit läuft für ihn weiter.
Auf dem Rückweg werfe ich einen kurzen Blick in meine Butterdose. Lachsschnittchen mit Ei, es muss Freitag sein. Tante Mimi ist das einzig Gute, was aus meiner Ehe geblieben ist. „Wenn wir Tante Mimi in Pflege nehmen, werden wir eines Tages satt erben.“ sagte mein Gatte. Sie zog ein, ich hatte die Arbeit und er zog bald darauf aus. Zum Glück denkt die alte Dame nicht daran, ihn zu beerben, die ist fit wie ein Turnschuh. Aber daran, dass ich von ihrem Frühstück mit Liebesbriefchen satt werden soll, denkt sie immer.
Da Margret krank ist, spare ich mir die Lachsschnittchen, fege in Zimmer 17 und stelle fest, dass das Abführmittel bei Herrn Meier schon wieder gewirkt hat.
„Ich habe früh genug geklingelt. Aber sie mussten ja mit Herrn Müller spazieren gehen. Gleich gibt’s Mittagessen und ich liege hier in der Scheiße.“
Ruhig, Fury, ruhig, sage ich zu mir.
„Lassen Sie mich raten. Heute gibt’s wieder Geflügel. Montags Pute, dienstags Hühnchen, mittwochs Gockel und ihr habt alle Probleme mit den Moslems gelöst.“
Ich nicke nur und bitte ihn, die Doktorsche mal nach einer Ernährungsberatung zu fragen. Das könnte seinen Darmproblemen Abhilfe schaffen. Er lacht mich aus.
„Die spart ihr euch doch genauso wie das Schweinefleisch.“
„Heute ist Freitag, Herr Müller, da gibt’s Fisch.“
Er verzieht das Gesicht, was ich für sein durchaus verständliches Urteil über unsere Fischsuppe halte.
„Meier!“ brüllt er. „Bist du zu doof, Müller von Meier zu unterscheiden?“
Ja, bin ich. Genau so, wie ich zu doof zum Rechnen bin. Nach meiner Rechnung könnte man von den Kosten für die Abführmittel plus Bettwäsche plus deshalb notwendiger Arbeitsstunden locker eine Ernährungsberaterin bezahlen, die obendrein allerhand weitere teure Medikamente überflüssig machte. Aber dann würde die Doktorsche ja nicht mehr zu den schönen Seminaren der Pharmaindustrie fahren können – in tolle Hotels mit Wellness, Hummer und Kaviar, ganz solidarisch.
Meine Gewerkschaftsvertreterin sieht das anders. Sie bellt mich an, weil ich solidaritätsloses Wesen dem Isolierpatienten noch immer sein Süppchen nicht eingebrockt habe. Als ich mir zum dritten Male Mundschutz und Kittel anziehe, sehe ich Herrn Müller traurig darauf warten, dass ich ihn in sein Zimmer zurückführe. Was soll ich machen?
Der Isolierte freut sich wie ein Schneekönig über die Suppe. Wenn er sprechen könnte, würde er bestimmt sagen, dass sie ihm nicht schmeckt, er aber nach Monaten am Tropf selig ist, etwas auf der Zunge zu spüren. So grinst er mich nur an und rollt mit den Augen. Ich sehe, dass sein Gesicht dringend der Creme bedarf, aber erstmal muss Herr Müller zurück auf sein Zimmer.
Als der dort ankommt, hat man sein Mittagessen schon wieder abgeräumt.
„Pech gehabt.“ feixt der böse Herr Meier. „Heute ist Freitag, kein Federvieh.“
Herr Müller ist genau so hungrig wie ich. Gerade will ich ihm ein neues Mittagessen besorgen, da geht der Alarm im Isolierzimmer los. Die Doktorsche rennt, ich hinterher. Kittel, Mundschutz, Desinfektion. Der Mann ist rot angelaufen und jappst, muss sofort auf die Intensiv. Im Galopp schieben wir ihn zum Aufzug.
Zigarettenpause, einmal tief durchatmen. Eine Kippe hilft immer gegen Hunger und Stress. Danach garniere ich meine Lachsschnittchen für Herrn Müller auf einen Krankenhausteller, denn jetzt ist kein Mittagessen mehr zu kriegen. Die Doktorsche steckt die Nase ins Schwesternzimmer.
„Schwester Inge…“ will sie loslegen.
„Frau Schmidt.“ verbessere ich sie. „Soviel Zeit muss sein.“
„Die Zeit, die Sie haben, sich ihre Pausenbrote zu garnieren, hätten Sie mal besser für einen Blick in die Patientenakte genutzt. Der Mann ist allergisch gegen Fisch und darf Ihre Suppe jetzt auslöffeln.“
Schreck lass‘ nach!
Mein Kopf rast, ich bringe kein Wort raus, starre sie nur an. Ich weiß, in welch‘ schwachem Zustand der Isolierte ist. Ein Allergieschock kann ihn umbringen. Warum stellen sie mir Fischsuppe für ihn hin? Weil ich ausreichend Zeit habe, seelenruhig in seine Akte zu schauen und mich um ein anderes Essen für ihn zu bemühen? Das brauche ich der Doktorschen nicht erzählen, sie hat ihre Schuldige gefunden. Ich bete: wenn er überlebt, werde ich die solidarischste Schwester aller Zeiten und lasse sogar Tante Mimi auf ihrer Liste unterschreiben. Werde ich langsam bekloppt oder bin ich’s schon?
„Die Brote sind für Zimmer 17.“ stottere ich.
„Schwester Inge, ist das alles, was dir als gelernter Ökotrophologin zu deinem groben Pflegefehler einfällt?“
Da bricht die Tochter von Herrn Müller über uns herein. Ihr Vater habe erst Ewigkeiten ohne Kompressionsstrümpfe auf dem Flur stehen müssen und nun nicht mal Mittagessen erhalten. Ob sich dieses Krankenhaus ernsthaft der Heilung verpflichtet sehe?
Ich schnappe mir Tante Mimis Schnittchen und ab geht’s durch die Mitte. Mir ist zum Heulen. Warum fällt der Doktorschen jetzt ein, dass ich Ernährungsberaterin bin, die hier ansonsten keiner braucht? Weil es meine Schuldgefühle in die Höhe treibt? Wäre Margret nicht krank … ach Quark, dann wäre die Hektik dieselbe. Jeden Abend trabe ich mit Schuldgefühlen nach Hause, weil ich eben kein heilsamer Geist wie Tante Mimi sein darf. Ich lege ihr Liebesbriefchen zu den Schnittchen für Herrn Müller. Wenigstens der freut sich und ruft Herrn Meier zu, dass die Lachsschnittchen zwar nicht warm, aber mit Abstand besser als seine versalzene Fischsuppe sind.
„Wenn auch zu spät, ich kann das Essen und das Leben besser genießen als Sie mit Ihrer ewig schlechten Laune.“
Auf dem Flur höre ich, wie die Doktorsche mit der Verwandtschaft des Isolierpatienten spricht. Halleluja, er hat überlebt! Trotzdem beschwert man sich zu Recht darüber, dass er nicht nur fast mit Fisch umgebracht wurde, sondern seit Tagen auch die Gesichtssalbe gegen seine Neurodermitis fehlt.
„Ihr Mann hat leider das Pech, im Isolierzimmer zu liegen. Da haben unsere Schwestern oft keine Lust, extra Kittel und Mundschutz anzuziehen…“
LUST?
Hat sie gerade Lust gesagt? Ich habe Hunger bis unter die Arme und zugleich habe ich es satt, satt, satt. Ich rufe Tante Mimi an und bestelle eine ganze Platte voller Lachsschnittchen.
Die Doktorsche, die Verwandten, die Therapeutinnen staunen, als ich erst lautstark nach der Unterschriftenliste verlange und dann mein Schild male. Ich unterschreibe für die Busfahrer und grinse sie an.
„Wenn ihr Hunger habt oder wissen wollt, mit wem ihr als nächstes solidarisch sein sollt, braucht ihr nur vor die Tür zu gehen.“
In voller Schwesterntracht setze ich mich mit Tante Mimi an die Haltestelle vor der Klinik, verteile Lachsschnittchen und halte immer dann mein Schild hoch, wenn ein Bus vorbeifährt:
ICH STREIKE FÜR DEN HEILSAMEN GEIST.
Astrid Petermeier, April 2016