Eine Solarhoroskopgeschichte für Melanie Müller
Ein Solarhoroskop wird auf den Zeitpunkt berechnet, zu dem die Sonne justamente an dem Punkt steht, an dem sie zur Geburt stand. Das kann durchaus mal am Tag vor oder nach dem Geburtstag sein. Es stellt kein komplett neues Horoskop dar, sondern gibt ein wenig Auskunft darüber, was die Aufgabe oder Atmosphäre des kommenden Jahres ausmacht (AC), in welchem Bereich der/die Betreffende glänzen, sich wohl fühlen kann (Hausstand der Sonne) und welche Ziele er/sie anstreben kann (MC).
Als Saturn am Samstagvormittag den kreisrunden Zodiak-Hörsaal betrat, hätte er fast erfreut gelächelt. Zugleich wurde ihm beim Anblick der Sternbilder leicht mulmig, nachgerade schwindelig und er wusste nicht, warum. Beides war ungewöhnlich für Gevatter Saturn:
Er lächelte sonst nie, denn er war ein harscher Gesell, sozusagen der Typ Oberlehrer, streng, aber gerecht. Und genau deshalb wäre ihm das kleine Lächeln fast entwischt: die ganze Planetenbande war heute mal pünktlich. Um 11 Uhr, 3 Minuten und 9 Sekunden am 5. 3.2016 saßen sie allesamt brav auf ihren Plätzen, weil sie seinen Tadel fürchteten. In dem Jahr, in dem Saturn in Sachen Melanie Müller den Vorsitz führte, hätte es nicht mal der rebellische Uranus gewagt, zu spät zu kommen. Denn das hätte ihm Saturn das ganze Jahr lang nachgetragen und übel genommen.
Warum aber war Meister Saturn so merkwürdig zumute? Er hatte sich doch bestens vorbereitet, wusste genau, wem er welche Prüfungsfragen zu stellen hatte, welche Antworten er mit weisem Nicken loben würde und auf welche er kurz und knapp „Sechs, setzen“ zu sagen hatte. Es gab also überhaupt keinen Grund, sich wie auf schwankenden Planken zu fühlen. Er kramte in seinen wohlgeordneten Erinnerungen: als Melli etwa 14 war, hatten sie sich alle zusammen aufgemacht zur Kirmes. Der dusselige Neptun hatte ihm den Eintritt für das Spiegelkabinett spendiert und Saturn hatte sich etwa so gefühlt wie jetzt: schwindelig, mulmig, unsicher wie in einem Raum voller Zerrspiegel.
Weg damit, neptunische Schwindeleien konnte er nicht brauchen. 2016 war sein Jahr, sein Vorsitz, seine interstellare Plenarsitzung, die er nun eröffnete.
„Meine Damen und Herren, ihr wisst, warum zu diesem Geburtstag der Melanie M., genannt Melli, ICH, Saturn, den Vorsitz unseres Solar-Plenums führe.“
Alle nickten brav, was Saturn nicht aus dem Konzept brachte, denn Wiederholung konnte nie schaden.
„Ich feiere in diesem Jahr gleich drei Mal die Rückkehr zu dem Punkt im Zeichen Schütze, an dem ich zu Melanies Geburt stand. Und zwar am 30. 1., am 21.5. und am 28.10., womit wir dieses Lebensjahr der Melanie mit Fug und Recht ein saturnisches nennen können. Da ich etwas mehr als 28 Jahre für eine Runde durch den Tierkreis brauche, erlebt der Mensch dies nur 2-3 Mal im Leben.“
„Sehr viel öfter braucht kein Mensch diese Prüfung.“ flüsterte Merkur der schönen Venus zu.
„Ruhe da unten.“ herrschte Saturn und stellte fest, dass Merkur und Venus nicht unten links sondern oben rechts saßen. Er riss sich zusammen.
„Es geht nicht darum, was der Mensch sich wünscht oder zu brauchen meint. Es geht um das, was ist und sein muss – ein vernünftiger Lebensaufbau gehört nun mal in regelmäßigen Abständen überprüft wie ein Motor.“
Kichern aus der Fische-Ecke. Er ignorierte das.
„Da ich aber ein Schütze-Saturn bin und euch keine Angst machen will, erhält unsere Prüfung in diesem Jahr eine neue, nennen wir sie optimistische Note. Die Prüfungsfrage an euch lautet:
Welches Geschenk habt ihr für Melanie mitgebracht?“
Mit saturnalischem Grinsen registrierte er das Entsetzen auf den Planetengesichtern. Ha! Auf diese Frage waren sie nicht gefasst. Ordentlich gebüffelt hatten sie alle – wer wollte schon durch die Saturn-Return-Prüfung fallen? Doch sie hatten mit saturn-typischeren Fragen gerechnet:
– welche Strukturen hat Melanie in den letzten 28 Jahren geschaffen?
– was hat sich als praktisch erwiesen, wo gilt es nachzubessern?
– an welchem Punkt ihrer Karriere ist sie angelangt?
– hat sie für’s Alter vorgesorgt, ist sie gut darauf vorbereitet?
Das waren echte Saturn-Fragen! Aber doch nicht: welches Geschenk habt ihr für Melli mitgebracht?
„Verwandlung.“ knurrte Pluto. „Ich befinde mich gerade in dem Lebensbereich, den wir mit ich-bin! oder hoppla-so-bin-ich umschreiben können. Genau dort werde ich mein Verwandlungsgeschenk hinterlassen.“
Giftig kicherte der freche Merkur los.
„Das gildet nicht. Dieses Geschenk hast du ihr 2013, 14 und 15 auch schon gemacht. Nur, weil du Oberlahmarsch noch ewig und drei Tage durch Mellis erstes Haus kriechst, kannst du ihr doch nicht jedes Jahr dasselbe schenken.“
„Transformation braucht eben Zeit.“
Saturn sah Merkur und Pluto genervt an. „Sechs, setzen.“ entfuhr es ihm, denn Streit war kein Geschenk. Dass die beiden aneinander zerrten wie zwei Oppositionelle im Bundestag war wohlbekannt. Melanies Merkur wollte mit jedermann freundlich wie ein Fisch im Wasser kommunizieren. Was Pluto stocksauer machte, denn er hätte sie lieber als ich-bezogenen Machtmenschen gesehen. So bürsteten sie sich seit 60 Jahren dieselben Argumente um die Ohren.
„Lasst euren alten Streit von mir aus im Rest des Jahres aufflammen.“ ging Saturn dazwischen. „Aber morgen will Melanie Geburtstag feiern und ich stelle meine Frage nach dem Geschenk jetzt an das Frollein AC.“
„Die ist kein Stern und kein Planet, nicht mal ein Mond!“ beschwerte sich die Sonne, die immer gern als Erste gefragt wurde und nicht einsah, dass das Frollein AC vorgezogen wurde.
„Richtig.“ stimmte Saturn ihr zu. „Unser Frollein AC ist der Punkt der heute um 11.03 Uhr genau im Osten lag, also auf 8 Grad Krebs. Was ist die Aufgabe eines Solar-AC?“
Nun, das wusste die Sonne:
„Die Atmosphäre des kommenden Jahres zu beschreiben. Um welche Angelegenheiten geht es? Mit welchen Kräften wird Melli es zu tun kriegen?“
Das Frollein Krebs-AC schlang die Arme um sich selbst und wiegte sich in einem Seitwärts-Tanz zur Musik des Wellenrauschens. Sie sprach mit warmer Stimme:
„Ich bringe Melli ein kuscheliges Nest mit. Sie darf sich geborgen fühlen und wenn sie es jetzt noch nicht tut, darf sie sich fragen, bei wem sie sich geborgen fühlt, an wen sie sich anlehnen möchte. Ich würde ihr gern die Zeit schenken, sich mit ihrer eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen.“
„Ewige Gefühlsduselei.“ meckerte der Mond. „Sie ist doch schon Therapeutin. Meinst du, da hätte sie Spaß an einem Gefühlsgeschenk?“
Saturn traute seinen Ohren nicht. Normalerweise war der Mond als Erster für Emotionen zu haben. Na, wenn er im Steinbock stand, war er ein ganz Reservierter. Saturn war gespannt, ob das Frollein AC eine passende Entgegnung hatte. Sie hatte:
„Eben drum. Nachdem sie jahrzehntelang andere therapiert hat, darf sie sich jetzt mal um die eigenen Bedürfnisse kümmern.“
„Ich fass‘ es nicht.“ gluckste Neptun. „Die halbe Welt liegt in Trümmern, Millionen Flüchtlinge brauchen unsere Hilfe und ausgerechnet eine Therapeutin soll ein ganzes Jahr lang um ihren eigenen Nabel kreiseln?“
„Habe ich das gesagt?“ jetzt wurde das Frollein AC langsam sauer. „Du kannst anderen nur helfen, wenn du dir selbst helfen kannst. Du kannst – auch Flüchtlingen – nur Geborgenheit geben, wenn du dich in dir selbst geborgen fühlst. Vielleicht sind die Flüchtlinge, denen man alles genommen hat, in diesem Jahr ein guter Anlass, sich zu fragen, was Geborgenheit wirklich bedeutet.“
Saturn ließ dem Frollein AC sein weises Nicken zukommen, was soviel wie Eins mit Sternchen bedeutete und wandte sich der Sonne zu.
„Kommen wir zu deinem Geschenk, liebe Sonne. Was kann Melanie tun, um sich wohl zu fühlen, um zu glänzen?“
„Struktur.“ strahlte die Sonne.
Eine Fische-Sonne, die Struktur verschenken will? Da lachen ja die Hühner, dachte Saturn bei sich. Waren die Fische nicht das Zeichen der Auflösung steinerner Strukturen und harter Krusten?
„Ich finde, das Frollein AC hat völlig Recht: Melli darf sich um sich selbst, um ihr eigenes Wohlfühlprogramm kümmern. Sie darf ihre Bedürfnisse erforschen und Forscher brauchen Struktur, wenn sie dabei nicht in Bedürftigkeit ertrinken wollen. Deshalb habe ich mich mitten ins 10. Haus, den Lebensbereich von Struktur und Berufung gesetzt. Ich habe ihr übrigens schon vorab etwas in dieser Richtung geschenkt.“
„Ach ja?“ murrte Saturn.
„Im Januar habe ich ihr die Idee eingeflüstert, mal wieder nach zu einem Bioenergetikkurs zu fahren. Sie nennen das jetzt anders, zittern aber immer noch gewaltig und lösen Spannungen. Das ist doch sowas wie die eigenen Bedürfnisse und Gefühle strukturiert angehen?“
Da hatte die Sonne ein wirklich feines Geschenk parat gehabt: nach den langen Jahren als Therapeutin sich selbst mal wieder einen solchen Kurs gönnen. In das weise Nicken von Saturn mischte sich Neid. Kerlokiste, darauf hätte er selbst kommen können. Die Sonne strahlte wie ein übergelaufener Dreckeimer.
„Um Anerkennung, lieber Saturn, geht es, wenn ich im 10. Haus stehe, ebenso wie um Struktur. Allerdings für Melli und nicht für dich, alter Knabe.“
Die Sitzung war lang geworden, hatte sich über den Samstag und durch die ganze Nacht zum Sonntag gezogen. Saturn vernahm scharrende Füße, sah, wie die anderen bereits flehentlich zum MC, der Himmelsmitte oder Medium Coeli blickten. Wieso lag diese Himmelsmitte in den Fischen? Schon wieder wurde ihm schwindelig.
„Der MC eines Solarhoroskops“, dozierte er sich auf sicheren Boden zurück, „markiert das Lernziel des Jahres. Wohin soll Melanie wachsen? Was kann sie durch gezielte Anstrengung erreichen? Jupiter, diese Frage gilt deinem Geschenk.“
Jupiter war ein dicker gemütlicher Gasplanet, der Optimismus versprühte und sich nur zu gern in alle Richtungen ausdehnte und weite Reisen unternahm.
„Was kost‘ die Welt? Schreiben Sie’s auf meinen Deckel.“ war sein Wahlspruch.
„Ich weiß genau, warum du mir diese Frage stellst. Es geht um die Fern-Reise im letzten Jahr, die Melli ja allerhand Schwierigkeiten bereitet hat.“
Saturn schüttelte vehement den Kopf. Mit dem Krebs-AC hatten sie längst geklärt, dass Melanie gern in ihrem Zuhause bleiben durfte, wenn ihr der Sinn danach stand. Jupiter zückte ein jungfräuliches Haushaltsbüchlein, das er in hübsches Geschenkpapier eingebunden hatte.
„Nur, wer seine Ressourcen gut einzuteilen versteht, hat die Kraft, einfach mal ins Universum zu vertrauen. Was dann ja wohl die Bedeutung von Fische am MC, also dem Ziel des Jahres ist.“
„Hä?“ machte die Venus.
„Was soll das denn?“ empörte sich Mars.
Saturn feixte. Sein alter Gegenspieler Jupiter wurde im Zeichen Jungfrau zahm wie eine Ziege. In diesem Zeichen ging es um den ökonomischen Umgang mit Ressourcen, was Melanie längst bestens beherrschte. Er sah nach unten, zum sog. IC, der die Wurzel bildete, aus der der Baum mit seiner Krone namens MC erst wachsen konnte. Unten die Jungfrau, in der sich Jupiter ausbreitete, oben die Fische, das Gegenstück. Unten Kontrolle, oben Vertrauen. Er verstand, was Jupiter meinte: ressourcenbewusstes Haushalten, auch mit den eigenen Kräften, stand nicht im Gegensatz zum Vertrauen in das Universum, sondern war eine Bedingung dafür.
„Das Lernziel ist Vertrauen.“ wiederholte Onkel Jupp. „Am Fische-MC darfst du glauben, dich an etwas Spirituellem orientieren und mit allen anderen schwimmen und dich treiben lassen. Du darfst dich als Teil eines großen Ganzen fühlen und ruhig mal einverstanden sein. Dann kann eine andere Energie Raum nehmen, dich mitreißen und in den kleinen Strudeln fröhliche Pirouetten drehen lassen, statt dass du dich ängstlich festhalten musst. Das alles und noch viel mehr ist das Lernziel eines Fische-MC im Solarhoroskop.“
Brandender Applaus schwappte über Jupiter. Und schon flutschten die Planeten mit ihren Monden und die Sterne auf ihrer Milchstraße zu den Ausgängen.
„Auf zu Mellis Geburtstagsfeier. Ran an den Kuchen!“
Nur Saturn blieb noch ein wenig und sah sich im Zodiak-Hörsaal um. Auf einmal wusste er, warum ihm so schwindelig war wie damals im Kirmes-Spiegelkabinett. Mellis diesjähriges Solarhoroskop war wie ein Spiegelbild ihres Geburtshoroskops.
Melanies Radix Melanies Solarhoroskop 2016
Oben und unten, rechts und links waren vertauscht. Am 6.3.57 hatte um 4.30 Uhr das Zeichen Krebs am DC, dem Punkt des Sonnenuntergangs oder der Begegnung mit anderen gestanden. Deshalb war Melli so ein fürsorglicher Mensch geworden, der sich gern um ihre Familie, ihre Freundinnen und Klienten kümmerte. Genau gegenüber lag der Steinbock, der den weichen Krebs dadurch schützte, dass sie manchmal spröde oder schwer nahbar wirkte. 2016 aber waren diese Zeichen spiegelverkehrt angeordnet. Sie sollte und durfte ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Wenn sie es strukturiert tat, würde sie sich dabei wohlfühlen und in Anerkennung sonnen können, um daraus wiederum das fischige Vertrauen ins Eins-Sein mit Allen und Allem zu gewinnen.
Saturn hörte seinen eigenen Magen knurren. Wie gut, dass die anderen schon weg waren. Bei diesem Geräusch fiel immer irgendwem der Mythos ein, in dem Saturn seine Kinder frisst. Mar-Gott, wie hatte er diese alte Geschichte satt. Wenn ihn heute, an Melanies Geburtstag, nach etwas gelüstete, waren es gewiss nicht ihre Kinder – wohl aber ihr weltbester Kuchen, auf den er sich freute wie Bolle.